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DIE HISTORISCHE KATEGORIE DES NEUEN 11)
Die Gestalt Hegels, so wie sie in seinem Werke uns erscheint, steht in einem zwie-spältigen Licht. Auf der einen Seite war Hegel ein liebevoller und ehrfürch-tiger Bewahrer des Alten; auf der andern Seite hat kein Philo-soph vor ihm das philoso-phische Den-ken so weit in neue Dimen-sionen der Reflexion vorge-trie-ben, daß die Ver-bindung zum Alten oft ge-fährdet, wenn nicht gar verloren zu sein scheint. Die dreifache Bedeu-tung des Hegelschen Begriffs des "Auf-he-bens" beschreibt die Dialektik der Si-tuation. Das Alte ist im Neuen aufgeho-ben inso-fern, als es in ihm ver-nichtet und verges-sen ist. Aber in ei-nem tiefe-ren Sinne ist es im Neuen be-wahrt und erhalten. Und mehr noch: inso-fern als es erhalten und im Neuen selbst neu ge-worden ist, be-deutet das Aufgeho-ben-sein schließlich ein Empor-gehoben-sein und eine Ver-klä-rung in den Strahlen der Re-flexion.
In dieser dialektischen Entgegenset-zung zum Alten enthüllt sich uns die Katego-rie des Neuen in drei verschie-denen Ge-stal-ten je nach dem ontologi-schen Ort, an dem sie uns erscheint. Am Anfang der Geschichte des Abso-luten ist das Neue nur ein unerfülltes Versprechen, die bloße Möglichkeit eines Kommens, auf das man hofft. Im Fortgang der Welthi-storie ist das Neue das Revolu-tio-näre und Gefährdende, das alte Ge-fäße und Formen zerbricht, und schließlich, im eschatolo-gischen Rück-blick auf die im Hier und Jetzt jeweilig vollendete Ge-schichte, ent-hüllt sich das Neue als die Erfüllung und Versöhnung der dia-lekti-schen Ge-gen-sätze, an denen das Alte zu-grunde und damit, wie Hegel sagt, in seinen Grund zurück gegangen ist.
Die Sprache, die wir in diesen einlei-ten-den Sätzen gesprochen haben, ist - wie auch Hegels Text des öfteren - bildhaft, romantisierend und wenig ge-eignet zur wissenschaftlichen Analyse. Wir wollen uns deswegen fragen, ob es möglich ist, den Hegelschen Begriff des Neuen einer strukturtheoretischen Analyse zu unter-werfen, in der das so-weit nur hermeneu-tisch Verständliche sich auf exakte ana-lytische Begriffe zurückführen läßt. Frei-lich, bevor wir an diese Aufgabe gehen, müssen wir feststellen, was He-gel selber zum Thema sagt. In Band IX der Origi-nal-ausgabe finden wir in der Einleitung zu den VORLESUNGEN ÜBER DIE PHI-LOSOPHIE DER GE-SCHICHTE auf S. 67 den folgenden Passus: "Die Verän-de-run-gen in der Na-tur, so unendlich man-nig-fach sie sind, zeigen nur einen Kreislauf, der sich im-mer wiederholt; in der Natur geschieht nichts Neues unter der Sonne, und inso-fern führt das Viel-förmige ihrer Gestal-tungen eine Lange-weile mit sich. Nur in den Verän-derun-gen, die auf dem geisti-gen Boden vorge-hen, kommt Neues her-vor." Neues in ei-nem grundsätzlichen und prinzipi-ellen Sinne gibt es für He-gel, wie es scheint, also nur in der Ge-schichte, denn er un-terscheidet in der-sel-ben Einleitung aus-drücklich ein na-türli-ches und ein geisti-ges Universum (S. 35). Das letztere ist für ihn die Weltge-schichte.
Entwicklungen und Veränderungen in der Natur folgen nach Hegel "einem in-neren unveränderlichen Prinzip" und finden auf eine "unmittelbare, gegen-satzlose, unge-hinderte Weise" statt. Em-phatisch fährt er dann fort: "Im Geist aber ist es anders ... er hat sich selbst als das wahre feind-se-lige Hin-dernis sei-ner selbst zu über-win-den; die Entwick-lung, die in der Na-tur ein ruhi-ges Her-vorgehen ist, ist im Geist ein harter un-endlicher Kampf ge-gen sich selbst" (S. 68). Diese Unter-scheidung ist Hegel so wichtig, daß er im näch-sten Ab-schnitt noch einmal darauf hinweist, daß die Entwicklung der histo-rischen Epochen nicht dasselbe ist wie das "harm- und kampflose bloße Hervor-gehen" (S. 69), das nach seiner Meinung die Evolution des natürlichen Lebens kennzeichnet. He-gel resümiert dann seine geschichts-philo-sophischen Gedan-ken mit der bün-digen Feststel-lung: "Die Weltgeschichte stellt º den Stufengang der Ent-wick-lung des Prinzips, dessen Gehalt das Bewußt-sein der Freiheit ist, dar" (S. 70).
Der Unterschied von Natur und Geist liegt also gemäß den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte darin, daß alle Entwicklung in der Natur auf dem Boden eines "inneren unveränder-li-chen Prinzips", das keine echten, d. h. prinzi-piellen Gegensätze aufkommen läßt, statthat; daß Geschichte aber eine stufen-artige Entwicklung eines Prin-zips impli-ziert. Die Kategorie des Neuen, als emi-nent historische, steht also in we-sentli-cher Verbindung mit der Verän-de-rung ei-nes allgemeinen Prinzips.
Damit hierüber nur kein Mißverständ-nis bestehe, führt Hegel auch einen unech-ten Begriff des Neuen an. Er er-wähnt die Le-gende vom Phoenix als Sinnbild "von dem Naturleben, das ewig sich selbst seinen Scheiterhaufen bereitet und sich darauf verzehrt, so daß aus seiner Asche ewig das neue, verjüngte, frische Leben her-vorgeht" (S. 90). Nachdem Hegel die-ses Bild als nicht sachgemäß abge-lehnt hat, fährt er kon-trastierend fort: "Der Geist, die Hülle seiner Existenz ver-zeh-rend, wandert nicht bloß in eine andere Hülle über, noch steht er nur verjüngt aus der Asche seiner Gestal-tung auf, sondern er geht erhoben, ver-klärt, ein reinerer Geist aus dersel-ben hervor" (S. 90f.). Von Er-hebung und Verklä-rung kann allerdings in der Mo-notonie der ewig gleichen Wieder-kehr des Phoenix nicht die Rede sein. Seine Auferstehung ist bloßer Natur-vor-gang. Sie ist die Selbstwiederho-lung ei-nes un-veränderli-chen Prinzips, das auch durch den Tod in nichts Hö-heres trans-formiert wird. Darum ist ein solcher Tod nach Hegel irrelevante Vernich-tung des vom Allge-meinen ab-getrenn-ten Einzel-nen. Über diesen Tod lesen wir in der PHÄ-NOME-NOLOGIE DES GEISTES, daß er "kei-nen inneren Um-fang und Erfüllung hat" (II, S. 446). Diesen natürlichen "plat-ten" Tod ster-ben Individuen und wohl auch Völker, obwohl die letzteren, wenn sie ihre historische Mission er-füllt haben, ge-legentlich weiter dauern kön-nen. Eine solche Fortdauer aber ist, so be-merkt Hegel, "eine interesselose unle-bendige Existenz ... eine politische Nul-lität und Langeweile. Wenn ein wahrhaft allge-meines Interesse entste-hen sollte, so müßte der Geist eines Volkes dazu kom-men, etwas Neues zu wollen, - aber wo-her dieses Neue? es wäre eine höhere, allgemeinere Vor-stellung seiner selbst, ein Hinausge-gangensein über sein Prin-zip, - aber eben damit ist ein weiter be-stimmtes Prinzip, ein neuer Geist vor-handen" (IX, S. 93).
Nun macht Hegel aber einen subtilen Unterschied zwischen dem natürlichen Tod, sei es eines Individuums oder ei-nes Volkes, und dem Untergang einer Gruppe als Träger und Repräsentant ei-nes histo-rischen Prinzips. Ein ge-sell-schaftlicher Verband, der von ei-nem sol-chen Prinzip beseelt ist, exi-stiert nicht nur in der Ge-gensatzlosig-keit na-türli-cher, sinnlicher Existenz, sondern er hat, wie Hegel sagt, auch Existenz als Gat-tung. Gattung aber ist das, was einen prinzipiellen Gegen-satz in sich erträgt. Bloße Desintegration des Ge-gensatzes produziert den natür-lichen Tod, der nichts weiter als bis zum äußersten ge-triebene Gegensatz-losig-keit ist. Aber während eine sol-che Auflösung für die Individualexi-stenz das unwider-rufliche Ende be-deutet, ist der Tod für die Gat-tung die unerläß-liche Bedingung für den An-fang von etwas Neuem. Dazu bemerkt Hegel in seiner Ästhetik: "Der Tod hat eine dop-pelte Bedeutung; einmal ist er das selbst-unmittelbare Vergehen des Na-türlichen, das andermal der Tod des nur Natürlichen und dadurch die Ge-burt eines Höheren, des Geistigen, wel-chem das bloß Natürliche in der Weise ab-stirbt, daß der Geist dies Mo-ment als zu seinem Wesen gehörig, an sich selbst hat" (X, 1; S. 450).
So weit haben wir uns darauf be-schränkt, im Rahmen von Zitaten die wichtigsten Termini zu sammeln, die Hegel mit sei-nem Begriff des Neuen as-soziiert. Es sind dies hauptsächlich "Veränderung", "Geist", "Gegensatz", "Prinzip", "Stu-fengang", "Tod" und "Auferstehung". Die Gewichtigkeit die-ser Termini, die alle systematische Re-levanz in der He-gelschen Philoso-phie haben, deutet dar-auf hin, daß unter der Kategorie des Neuen eben-falls etwas Gewichtiges und Funda-mentales zu ver-stehen ist. Es erüb-rigt sich, darauf hin-zuweisen, daß, wenn Hegel vom Neuen spricht, er nicht solche Belanglosigkei-ten wie neue Kleider oder neue Trans-portmittel meint. Wir fühlen uns zwar berechtigt, wenn wir von der biologi-schen Ent-wicklung der Organis-men re-den, zu sagen, daß im Laufe der Zeit neue Tiergattungen aufgetreten sind. Aber Hegels Gebrauch des Terminus "neu" ist so rigoros, daß auch diese Be-deu-tung ausgeschlossen werden muß, denn in der Natur geschieht ja - so wie er wenigstens behauptet - nichts Neues.
Wenn wir uns nun endlich der Frage zu-wenden, ob und wieweit sich die Hegel-sche Kategorie des Neuen strukturtheo-retisch präzisieren läßt, dann fällt uns auf, daß die acht von uns erwähnten (und evtl. vermehrba-ren) Fundamental-be-griffe, die Hegel mit der Kategorie des Neuen verbin-det, sich in zwei Grup-pen, wie in der folgenden Tafel, anord-nen lassen:
Wie man sieht, haben die Termini auf der linken Seite der Tafel wesentlich strukturtheoretisch-formalen Charak-ter. Die auf der rechten Seite bezeich-nen nicht-säkularisierte Mythologeme. Je-dem Begriff auf der rechten Seite ent-spricht also eine gewisse Struktur-ei-gentümlich-keit auf der linken - ob-wohl niemand ernsthaft behaupten kann, daß unsere Idee von 'Natur' da-mit erschöpft ist, daß wir stattdessen von kreislauf-förmiger Veränderung sprechen.
Andererseits drängt das Verhältnis von linker und rechter Seite uns die fol-gende Überlegung auf: Wenn die Ter-mini auf der linken Seite wenigstens den Anfang einer Formalisierung und Säkularisie-rung der Mythologeme be-deuten, dann sollte es möglich sein, einen solchen Prozeß der Formalisie-rung solange fort-zusetzen, bis alle Mythologeme auf der rechten Seite - und andere, die wir in unsere Ta-fel eintragen könnten - als entweder ele-mentare oder komplexe Struktureigen-schaften unserer empiri-schen Wirklich-keit entlarvt sind.
Daß ein solcher Säkularisierungsprozeß einer älteren Mythologie in der Hegel-schen Philosophie wirksam ist, daran kann kaum ein Zweifel bestehen. Auch läßt sich kaum bestreiten, daß die Kate-gorie des Neuen davon betroffen ist, ob-wohl für uns Heutige das Wort, wenn überhaupt, nur schwache metaphysische oder mythologische Assoziationen mit sich trägt. Aber wir wollen nicht ver-ges-sen, daß Hegels These, daß in der Natur nichts Neues geschieht, ein Zitat aus dem Prediger Salomo ist, und daß der Terminus auch sonst in der Bibel häufig in einem fundamentalen Sinne gebraucht wird. Es sei nur an den An-fang des 21. Kapitels der Offenbarung Johannis erin-nert, "Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Him-mel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr. " Hegels Assoziie-rung des Ter-minus "neu" mit "Prinzip" und "Stufe" z. B. enthält zwar den An-satz einer sol-chen Säkularisierung, die über die bib-lische Tradition hinausgeht, aber auch nicht mehr.
Wir wollen jetzt diesen Ansatz um einen Schritt weiter treiben und fragen uns deshalb, was es bedeuten kann, wenn Hegel behauptet, daß die subal-ternen - nichts wirklich Neues pro-duzierenden - Veränderungen, deren die Natur fähig ist, auf einer Gegensatz-losigkeit beru-hen. Nun ist es ganz selbstverständlich, daß in jeder Veränderung irgendwelche Unter-schiede und damit relative Gegen-sätze involviert sind. Hegel muß also zwei Gegensatztypen unterscheiden. Und er tut das in der Tat, wie allgemein be-kannt ist. Funktionell charakterisiert er diese Gegensatztypen durch die Unter-scheidung von partieller und totaler Ne-gation.
Dabei fügt aber Hegel, wie ebenfalls be-kannt, der ersten klassischen Nega-tion mit ihrer partiellen und totalen Variante noch seine berühmte 'zweite Negation' hinzu. Zum Zwecke der Klä-rung des ge-genseitigen Verhältnisses dieser beiden Negationen wollen wir ein neues Be-griffspaar einführen, das wir mit den Termini ´Kontexturalität´ und 'Diskon-texturalität' bezeichnen. Was eine Kon-textur ist, wollen wir zu-erst an einigen einfachen Beispielen erläutern: Wenn wir vom Sein-über-haupt sprechen, so meinen wir damit einen totalen systema-tischen Zusam-menhang, der in sich ge-schlossen ist, also eine Kontexturbildet, die sich als solche von dem abgrenzt, was Hegel das reine Nichts nennt. Alle theoreti-schen Mittel, derer man sich in-nerhalb eines solchen kontexturellen Zu-sam-menhangs bedient, versagen, wenn man vermittels ihrer über die Grenzen der Kontextur hinaus schreiten will. Das ist in der Anwendung auf die Diskon-textu-ralität von Sein und Nichts völlig tri-vial. Jede logische Kette oder jeder arithmetische Zählprozeß, deren wir uns im Bereich des Seins bedienen, finden ein Ende, wenn wir versuchen, die Grenze vorn Sein zum Nichts zu über-schreiten. Man kann im Nichts we-der Schlüsse ziehen noch Dinge zählen.
Der Gegensatz von Sein und Nichts ist so der elementarste Fall von Diskontex-tu-ralität. Wäre er jedoch der einzige, dem unser Universum unterworfen wäre, so wäre die Hegelsche Logik überflüs-sig, und es wäre uns für immer unmög-lich, über die klassische Tradi-tion des Den-kens und der Philosophie hinauszu-kom-men. Tatsächlich aber ist unsere Wirk-lichkeit von weiteren Dis-kontextu-ralitä-ten durchwebt, die un-endlich viele Kon-texturen von einander trennen. So formt z. B. der Inbegriff aller bona fide Ob-jekte eine Kontextur und der subjek-tive Bewußtseinsraum eines erlebenden Sub-jekts, das diese Objekte wahrnimmt, eine andere. Ein weiteres Beispiel der Dis-kontexturalität ist die radikale Tren-nung des Bewußt-seinsraums eines Ichs von der soge-nannten psychischen Sphäre eines Du. So sehr wir uns auch bemühen, wir können die Bewußtseinsvollzüge eines fremden Ichs nie als die unsern erleben, weil ja psychische Erlebnisse, die an verschiedene Ich-zentren gebun-den sind, unterschiedlichen Kontexturen an- gehören und damit relativ zueinander diskontex-turell sind.
Dabei fügt aber Hegel, wie ebenfalls be-kannt, der ersten klassischen Nega-tion mit ihrer partiellen und totalen Variante noch seine berühmte 'zweite Negation' hinzu. Zum Zwecke der Klä-rung des ge-genseitigen Verhältnisses dieser beiden Negationen wollen wir ein neues Be-griffspaar einführen, das wir mit den Termini ´Kontexturalität´ und 'Diskon-texturalität' bezeichnen. Was eine Kon-textur ist, wollen wir zu-erst an einigen einfachen Beispielen erläutern: Wenn wir vom Sein-über-haupt sprechen, so meinen wir damit einen totalen systema-tischen Zusam-menhang, der in sich ge-schlossen ist, also eine Kontextur bildet, die sich als solche von dem abgrenzt, was Hegel das reine Nichts nennt. Alle theoreti-schen Mittel, derer man sich in-nerhalb eines solchen kontexturellen Zu-sam-menhangs bedient, versagen, wenn man vermittels ihrer über die Grenzen der Kontextur hinaus schreiten will. Das ist in der Anwendung auf die Diskon-textu-ralität von Sein und Nichts völlig tri-vial. Jede logische Kette oder jeder arithmetische Zählprozeß, deren wir uns im Bereich des Seins bedienen, finden ein Ende, wenn wir versuchen, die Grenze vom Sein zum Nichts zu über-schreiten. Man kann im Nichts we-der Schlüsse ziehen noch Dinge zählen.
Der Gegensatz von Sein und Nichts ist so der elementarste Fall von Diskontex-tu-ralität. Wäre er jedoch der einzige, dem unser Universum unterworfen wäre, so wäre die Hegelsche Logik überflüs-sig, und es wäre uns für immer unmög-lich, über die klassische Tradi-tion des Den-kens und der Philosophie hinauszu-kom-men. Tatsächlich aber ist unsere Wirk-lichkeit von weiteren Dis-kontextu-ralitä-ten durchwebt, die un-endlich viele Kon-texturen von einander trennen. So formt z.B. der Inbegriff aller bona fide Ob-jekte eine Kontextur und der subjek-tive Bewußtseinsraum eines erlebenden Sub-jekts, das diese Objekte wahrnimmt, eine andere. Ein weiteres Beispiel der Dis-kontexturalität ist die radikale Tren-nung des Bewußt-seinsraums eines Ichs von der soge-nannten psychischen Sphäre eines Du. So sehr wir uns auch bemühen, wir können die Bewußtseinsvollzüge ei-nes fremden Ichs nie als die unsern erle-ben, weil ja psychische Erlebnisse, die an verschiedene Ich-zentren gebunden sind, unterschiedlichen Kontexturen an-gehören und damit relativ zueinander diskontex-turell sind.
Für die Idee einer Kontextur ist wesent-lich, daß inhaltliche Gleichheit oder Unterschiede - also intra-kontexturale Identitäten und Differenzen - nicht das geringste für die Fusion oder Trennung zweier oder mehrerer Kontexturen bei-tragen. Wir wollen das an unserm letz-ten Beispiel der Kontexturalitätsdiffe-renz zweier Bewußtseinsräume, die sich als Ich- -und Du-Sphären verhalten, et-was näher erläutern. Zuerst soll stipu-liert werden, daß zwei Iche zu einer gegebe-nen Zeit "identische" psychische Erleb-nisse haben, "dasselbe" fühlen, wollen oder auch die "gleichen" Gedan-ken ent-wickeln, - also des Poeten Wort ver-wirklichen: zwei Seelen und ein Ge-danke, zwei Herzen und ein Schlag! Dann aber wollen wir umgekehrt stipu-lieren, daß zwei individuelle Ich-zen-tren nicht die geringsten Gedanken "gemein-sam" haben und daß sowohl die Gefühle des einen Ichs als auch seine Willensin-tentionen dem andern völlig fremd und unverständlich sind.
Soweit nun das Problem der Kontextu-ra-litätsdifferenz zweier gesonderter Ich-zentren und der ihnen zugeordneten Be-wußtseinsräume in Frage kommt, ist es völlig gleichgültig, welche der bei-den oben beschriebenen Stipulationen wir akzeptieren. Sogenannte Gleichheit der Gefühle, Gedanken und Willensent-schei-dungen verringert die Kontextura-litäts-schranke nicht im geringsten. Ebensowe-nig wie gegenseitiges totales Unver-ständnis und die Unmöglichkeit des Nachvollzugs fremder Bewußtsein-serleb-nisse sie erhöht. Die jeweiligen spezifi-schen Inhalte, die in einer Kon-textur zu-sammengefaßt und strukturell verbunden sind, sind qua Inhalt völlig irrelevant. Was allein in Frage kommt, ist der strukturelle Abbruch, der zwi-schen zwei Kontexturalitäten existiert und der es unmöglich macht, daß ein gegebenes Ich je die Erfahrungen eines Du als die sei-nen erlebt. Für das Ver-hältnis zweier strukturgleicher Kon-texturen ist die Re-lation von Urbild und Abbild proto-typisch.
Es läßt sich vielleicht noch hinzufügen, daß eine notwendige - aber nicht zurei-chende - Eigenschaft einer Kontextur darin besteht, daß in ihr das Tertium non datur derart gilt, daß die Alterna-tive, die das Dritte ausschließt, von einer solchen erschöpfenden Allge-meinheit sein muß, daß sie keinem übergeordneten Bestim-mungsgesichts-punkt (der Alternativen von größerer logischer Spannweite er-laubt) unter-liegt. Reflexionsloses Sein- überhaupt kann für seine Inhaltsbe-stimmungen im Sinne eines radikalen Drittensatzes logisch nicht überboten werden. Also stellt es eine geschlossene Kontextur dar.
Wir behaupten nun, daß die klassi-sche erste Negation Aristotelischer Proveni-enz als partielle Negation ausschließ-lich eine in-tra-kontexturelle Funktion hat. Sie negiert innerhalb einer Kontextur und sonst nirgends. Als to-tale aber negiert sie sich selbst und hebt da-mit die ganze Kontextur auf, in der sich ihre partiellen Negationsfunk-tionen bewegen. Das ist Hegelsches "Aufheben" im Sinne von Vernich-ten. Im Gegensatz dazu hat das, was Hegel als "zweite Negation" be-zeichnet, über-haupt keine in-tra-kontexturelle Funk-tion. Dieses Negieren hat transkontex-turellen Charakter. In dieser neuen Opera-tion wird die Gesamtheit einer Kontextur dadurch "verneint", daß man an ihre Stelle nicht das Nichts, sondern eine andere positive Kon-textur setzt.
Innerhalb jeder gegebenen Kontex-tur herrscht nun jenes andere un-veränderli-che Strukturprinzip, von dem Hegel spricht. Der Übergang von einer Kon-textur zu einer ande-ren von ihr positiv unterscheidba-ren (die Kontextur des Nichts ist nicht von der Kontextur des refle-xionslosen Seins unterscheid-bar) aber bedeutet Wechsel eines Struktur-prinzips. Es gehört zur De-fini-tion einer Kontextur, daß ihr struktu-reller Charak-ter durch in-tra-kontextu-relle Operatio-nen in keiner Weise ver-ändert werden kann. Er kann aber auch nicht durch He-gels zweite Negation verändert werden, denn die letztere hat ja nur die Aufgabe, einen neuen und rei-cheren Strukturzu-sam-menhang an die Stelle des alten zu set-zen. Die-ser schließt zwar - als Sub-Struktur - die vorangehende Kon-textur ein (Hegels "Aufheben" als Be-wahren), aber diese Sub-Struktur hat jetzt ihren universa-len, al-les-beherr-schenden Kontextur-cha-rakter verlo-ren.
Dadurch, daß die zweite Negation nir-gends Inhaltsbestimmungen, sondern nur die strukturellen Zusammenhänge gege-bener Inhalte "ver-neint", verändert sie das bis dato geltende logische Prin-zip. Der Gegensatz, von dem Hegel im Zu-sammenhang mit der Kategorie des Neuen spricht und den er mit der Ge-gen-satzlosigkeit der sogenannten na-türli-chen Veränderung kontrastiert, ist der "totale" Gegensatz sich qua Kon-textur ausschließender sub-kontextu-reller Prin-zipien und Zusammenhänge (s. Appen-dices). Verglichen mit ihm schrumpfen intra-kontexturelle, d.h. materiale, bzw. kontingente Differen-zen bei gleichblei-bendem Strukturprin-zip zu relativer Ge-gensatzlosigkeit zu-sammen. Das Neue in der Geschichte, das nach Hegel aus der "unwillige(n) Arbeit" des Geistes an seinem Gegen-satz entsteht, ist also nicht das Produkt sich bestreitender Inhaltsbe-stimmungen innerhalb einer gegebenen Kontextur. Es resultiert vielmehr aus dem Gegen-satz zweier Kontexturen. Dieser Schluß ist unvermeidlich! Da das, was wir mythologisierend Geist nennen, reine Kontextur ist, kann der Geist sich selbst nur als Kontextur zum Gegen-satz haben, und nicht als vereinzelter kon-textureller Inhalt.
Mit der einfachen Feststellung, daß die Hegelsche Kategorie des Neuen, die mit der Ablösung einer weltgeschichtlichen Epoche durch eine andere verbunden ist, identisch ist mit der Idee eines Kontex-turwechsels in der Geschichte - deren historischer Motor die zweite Negation ist könnten wir uns begnügen und unsere Betrachtung abschließen, wenn Hegel nicht darauf hinwiese, daß die Weltge-schichte einen Stufengang der Entwick-lung eines Prinzips darstellt derart, daß ein höheres Prinzip ein nie-dereres ab-löst. Nun haben wir zwar die Idee eines Prinzips mit der struk-turtheoretischen Konzeption einer ge-schlossenen Kon-textur identifiziert. Was wir bisher aber über Kontexturen gesagt haben, gibt uns noch kein Recht zu behaupten, daß der Übergang von einer Kontextur zur näch-sten ein Fort-schreiten vom Niederen zum Höheren oder auch umgekehrt ein Regreß vom Höheren zum Niederen ist. Im Gegen-teil: die Beispiele von Kontextu-ren, die wir bisher angeführt haben, z.B. die Diskontexturalität von reflexionslo-sem Sein und Nichts, oder von Ich- und Du-Subjektivität, schließen eine solche Möglichkeit ausdrücklich aus. Die Dis-kontexturalitätsrelation zwischen den bisher angeführten Kontexturen ist symmetrisch - also ein Umtauschver-hältnis - und nicht hierarchisch. Um festzustellen, daß Hegel recht hat, wenn er vom Stufengang eines sich immer neu verwandelnden Prinzips in der Weltge-schichte spricht, müssen wir einen wei-teren Begriff, nämlich den der asymme-trischen Diskontexturalität ein-führen.
Was darunter zu verstehen ist, läßt sich am besten erläutern, wenn wir uns zu-erst genau vergegenwärtigen, was unter symmetrischer Diskontexturalität zu verstehen ist. Zwecks Illustration wol-len wir ein weiteres Beispiel elementa-rer Diskontexturalität anführen. Viel-leicht der fundamentalste Ausdruck von ele-mentarer Diskontexturalität neben dem die Hegelsche Logik eröffnenden Gegen-satz von reflexionslosem Sein und rei-nem bestimmungslosen Nichts ist die Zeit. Zeit ist, strukturtheoretisch be-trachtet, nichts anderes als die Akti-vie-rung einer Diskontexturalitätsrela-tion zwischen Vergangenheit und Zu-kunft. Wir können zwar Aussagen über die Vergangenheit machen, und wir können auch mit gewissen Reservatio-nen Aussa-gen über die Zukunft machen, wir sind aber in keiner Weise fähig, theoretische Feststellungen über die Gegenwart zu machen, weil die Gegen-wart im Prozeß der Aussage selbst so-fort zur Vergan-genheit wird. Alle über-haupt möglichen Aussagen müssen in eine Kontextur ein-zuordnen sein. Ge-genwart aber bedeutet nichts anderes als Übergang von einer Kontextur zur anderen. Die Entdeckung, daß Vergangenheit und Zukunft diskontextu-relle Zeitdi-mensionen sind, läßt sich bis auf Ari-stoteles zurückführen. Er weist nämlich im IX. Kapitel von PERI HER-MENEIAS darauf hin, daß der Satz vom ausgeschlossenen Dritten sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zu-kunft gültig ist, daß er aber nur auf die Ver-gangenheit anwendbar ist. Die bei-derseitige Gültigkeit des Ter-tium non datur für die Vergangenheit sowohl wie für die Zukunft weist dar-auf hin, daß diese beiden Kontexturen, soweit das Gültigkeitsproblem in Frage kommt, ein symmetrisches Um-tauschverhältnis bil-den. Sie sind auf-einander abbildbar. Auf dem Boden der klassischen Logik ist der Zeitverlauf nur chronologisch und refle-xionslos, d.h. er ist umkehrbar. Die Dis-kontextu-ralität der beiden Zeitdimensio-nen Ver-gangenheit und Zukunft kommt nun darin zum Ausdruck, daß bei beider-seitiger Gültigkeit des Drittensatzes der-selbe immer nur auf einer Seite an-wend-bar ist. Die Seite, auf der wir ihn an-wenden, ist diejenige, die wir dann Ver-gangenheit nennen.
Wir können die chronologische, undia-lektische, Zeit also als eine "temporale" Folge zweier Kontexturen betrachten, aber da diese Folge umkehrbar ist, liegt in ihr nichts, was auf einen Stufengang und einen Fortgang vom Niederen zum Höheren hinweist.
Andererseits aber verbinden wir mit dem Übergang vom Alten zum Neuen die Vorstellung der Nicht-Umkehrbar-keit. Das Neue ist nur deswegen neu, weil es nach dem Alten kommt. Was wir benö-tigen, ist also eine nicht-um-kehrbare Diskontextura-litäts-relation. Wenn wir von Sein und Nichts spre-chen, oder von Ich-Subjek-tivität und Du-Subjektivität, oder von Vergan-gen-heit und Zukunft nur im chronologi-schen Sinne, dann spre-chen wir von ungeordneten Paaren von Kon-texturen. Um aus ihnen einen Stu-fen-gang zu ma-chen, der den Hegelschen Begriff des gerichteten Werdens impli-ziert, müssen wir ein Schema finden, nach dem sich alle überhaupt möglichen Kontexturen ordnen lassen. Die Lösung dieses Pro-blems ist bereits in der He-gel-schen Lo-gik vorhanden. Wie be-kannt, beginnt die große Logik Hegels mit der undia-lektischen Entgegen-setzung von Sein und Nichts, die dialektisch be-trachtet aber eine Gleichsetzung ist. Sein-überhaupt designiert - worauf wir bereits hinwie-sen - einen ungebro-chenen ontologi-schen Zusammenhang. Sein- überhaupt hat nirgends Löcher. Ge-nau das gleiche muß aber auch vom rei-nen Nichts be-hauptet werden. So wie das Sein keine Löcher hat, so wird das reine Nichts nirgends von Seinsbrocken unter-bro-chen. Hegel weist am Anfang der Gro-ßen Logik ausdrücklich darauf hin, daß beide Dimensionen strukturell völlig ununterscheidbar sind. Und doch sind sie diskontexturell, denn das Sein ist eben Sein und nicht Nichts. Der Sach-verhalt ist in der mathematischen Logik längst bekannt, wo er als Iso-morphie der Zweiwertigkeit und se-mantische Sym-metrie von Affirmation und Nega-tion erscheint. Diese Isomor-phie stellt man auf die folgende Weise her:
a) Jede Aussage wird ihrer Negation zugeordnet.
b) Die Grundbeziehung 'Negation' wird sich selbst zugeordnet.
c) Der Grundbeziehung 'Konjunktion' wird die Grundbeziehung 'Disjunk-tion' zugeordnet.
Daraus erfolgt eine überraschende Tat-sache: wenn wir uns. in unsern Aussa-gen über die Welt, der klassischen zweiwer-tigen Logik bedienen, dann sind wir in der Lage, zwei Aussage-mengen zu bil-den, die sprachlich äu-ßerst verschieden sein können, die aber ontologisch genau dasselbe sagen. In seinem Vortrag auf einem He-gel-Kongress, der 1931 unter anderen Auspizien als heute abgehalten wurde, wies der Mathematiker Reinhold Baer auf diese Isomorphie mit der Be-mer-kung hin: "Jede Aussage ist zwar von ihrer Negation verschieden, aber es besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen positiven und negativen Aus-sagen, sogar schärfer zwischen einer Aussage und ihrer Negation." Obgleich Reinhold Baers Behauptung unantastbar ist, besteht unser logischer Instinkt dar-auf, daß zwischen einer Aussage und ihrer Negation doch ein wesentlicher ontologischer Unterschied besteht. Und dieser Instinkt hat recht. Wenn wir nämlich den Inbegriff aller affirmativen Aussagen, die aus der klassischen Lo-gik hervorgehen, auf Hegels refle-xionsloses Sein abbilden und den iso-morphen Inbe-griff aller Negationen dieser Aussagen auf das ebenso refle-xionslose Nichts, dann demonstriert unsere Isomorphie die totale Diskon-texturalität von Sein und Nichts. Hegel hat für diese Diskontextu-ralität einen wohlbekannten Terminus: Unmittelbar-keit. Aber Unmittelbarkeit allein ist noch keine Gewähr für Neues.
Wir wollen jetzt den Begriff der Iso-mor-phie zweier Kontexturen, die trotz ihres isomorphischen Charakters dis-kontextu-rell getrennt sind, im Lichte der Hegel-schen Kategorie des Neuen betrachten. Zwar ist jeder vorstellbare zähl-, denk- und objektivationsfähige Wirklichkeits-prozeß in eine gegebene strukturelle Kontextur eingeschlossen. Ist aber eine zweite Kontextur der er-sten in dem von Baer beschriebenen Sinn also zweiwertig und undialektisch isomorph, dann lassen sich diese Pro-zesse in der zweiten Kon-textur spiegel-bildlich wiederholen. Das bedeutet nun, daß alle angeblichen Aus-sagen über das Nichts, in denen man sich negativer Aussageformen bedient - wie das z. B. die negative Theologie des Dionysius Areopagita tut -, in Wirklich-keit nichts anderes sind als maskierte Aussagen über das affirmative re-flexionslose Sein! Und wenn Sein und Nichts nur einfache Spiegelungen von-einander sind, dann können wir im Ab-bild nichts lesen, was wir nicht schon im Urbild erfahren haben. Daraus folgt - um zu unserer thematischen Kategorie des Neuen zurückzukehren -, daß nach al-lem, was wir aus dem Sein gelernt ha-ben, uns das Nichts keine Neuigkeit mehr bieten kann.
Damit wird deutlich, daß die Hegelsche Kategorie des Neuen mit dem struktu-rellen Prinzip der Anisomorphie ver-bun-den sein muß. Wenn Hegel behaup-tet, daß es in der Natur nichts Neues gäbe, dann meint er damit, daß die Ka-tegorie des Neuen, so wie er sie ver-steht, in Symmetriesystemen keine An-wendung finden kann. Damit ist das Mythologem ´Natur´ im Sinne der He-gelschen Philo-sophie völlig säkulari-siert. "Natur" be-deutet Symmetrie von Seinssystemen. D.h. das, was in einem gegebenen Ob-jektivzusammenhang symmetrisch ist, das ist "natürlich". Unsere weiteren Aus-führungen antizi-pierend, können wir sa-gen, daß ein er-ster Schritt zur Säkulari-sation des Ter-minus 'Geist' damit getan ist, daß wir von dem letzteren sagen, er sei eine Manifestation eines asymmetri-schen Verhältnisses von Kontexturen.