Joachim Castella

I.M.A.G.E.
Institut für Medienanalyse und Gestalterkennung

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Kreise, Unterschiede, Negativität

Graphematische Probleme der Künstlichen Intelligenz

In: Spuren. 41, 4/1993, S. 57-60, © beim Autor

 

In der Mitte der zwei, im Zwischen von Welt und Ding, in ihrem inter, in diesem Unter- waltet der Schied
Heidegger, Unterwegs zur Sprache

1. Der Unterschied mache einen Unterschied, erklärt Gregory Bateson [1], und niemand wird diese, weil tautologische Aussage ernsthaft bestreiten. Doch was genau ist hierin angelegt, wenn damit mehr als eine sprachlich amüsante Formulierung gegeben sein soll?

Zunächst läßt sich feststellen, daß der Satz "Ein Unterschied macht einen Unterschied." zugleich in beide Richtungen gelesen werden kann, ohne seinen Sinn zu verändern. Anders ausgedrückt handelt es sich um einen selbstrückbezüglichen Satz, d.h. um einen Satz, dem keine eindeutige Gerichtetheit zugeordnet werden kann, der sich der Linearität von Anfang und Ende entzieht. Nicht-linear zu sein ist aber nur ein notwendiges, jedoch nicht hinreichendes Kriterium für Selbstrückbezüglichkeit, insofern Nicht-Linearität auch Zirkularität bedeuten kann, welche sich aber problemlos wieder auf die Linie abbilden läßt. "Ein Unterschied macht einen Unterschied, macht einen Unterschied ..."

Der obige Satz jedoch stellt keine unendliche Iteration dar, verbleibt vielmehr in der Struktur von Subjekt - Prädikat - Objekt, wobei sich die Besonderheit erkennen läßt, daß Subjekt und Objekt ihre Rolle tauschen können, daß also nicht eine Zirkularität im Sinne einer bloßen Wiederholung vorliegt, sondern die Kreisstruktur sich durch die Beliebigkeit der Richtung auszeichnet. Damit jedoch ist der Abbildung auf die Linie der Weg versperrt, insofern Linearität an die Einmaligkeit des Ursprungs und den sich daraus ergebenden Richtungssinn gebunden ist. Anders gewendet bedeutet dies, daß Selbstreferentialität nicht allein an die Zirkularität gebunden ist, sondern darüberhinaus einer nicht-iterativen, d.h. dual gerichteten Zirkularität bedarf.

Ist Zirkularität gegeben, wenn sich die Katze in den Schwanz beißt, so kann von Selbstreferentialität erst gesprochen werden, wenn der Schwanz zurückbeißt. Damit aber ist die ursprüngliche Rede von Subjekt/Objekt insofern obsolet, als sie ihre Gültigkeit nur innerhalb einer Richtung beibehält, da der Richtungswechsel die Einteilung umkehrt, was des weiteren bedeutet, daß Selbstreferentialität ein nicht-hierarchisches Beziehungsgefüge ist, da sich die Asymmetrie von Subjekt/Objekt mit der Aufhebung der Absolutheit dieser Dichotomie ebenfalls verflüchtigt.

Wenn nun der Satz "Ein Unterschied macht einen Unterschied." sich der eindeutigen Zuordnung bzgl. Subjekt/Objekt verweigert, so darf dies nicht dahingehend verstanden werden, als sei damit der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet, vielmehr soll die die Konsistenz garantierende Zuordnung aus ihrer Eindeutigkeit in eine Dualität überführt werden. Erkennt man in dem Beispiel eine Operation, so wird die von einem Ursprung her konzipierte Unilinearität von Operator und Operand in die bi-originäre Struktur des Chiasmus überführt, wonach der Operator, der auf den Operanden einwirkt selber Operand eines Operators wird, dem er zuvor/zugleich als Operator begegnet(e). D.h. die Tautologie des Unterschiedes wird dahingehend aufgeschlüsselt, daß sich der Unterschied in gegenläufiger Bewegung einmal als Operator/Operand, zum anderen als Operand/Operator begegnet. Selbstreferentialität des Unterschiedes bedeutet dann, daß die Unterscheidung eine chiastische oder dialektische Operation darstellt wonach Unterscheidendes zum Unterschiedenen wird und Unterschiedenes zum Unterscheidenden. Diese Struktur der Selbstrückbezüglichkeit versagt sich jedoch, wie das Diktum Bateson's zeigt, ihrer positiv-sprachlichen Darstellung, da die Sprache der Unilinearität und eindeutigen Subjekt-Objekt-Beziehung verpflichtet ist. D.h. eine strukturale Darstellung der Unterscheidung muß notwendigerweise die Grenzen der Positivsprache verlassen, will sie sich nicht in Bereiche begeben, wie sie als Kondensationspunkte eines Ringens mit der Selbstbezüglichkeit vor dem Dilemma äußerster Verdichtung und gleichzeitiger Sprachlosigkeit im Denken Heideggers erscheinen, wenn das Ding dingt, die Welt weltet und das Nichts nichtet.

2. Spencer Brown versucht beiden Anforderungen Rechnung zu tragen, wenn er einen Kalkül entwirft, der antritt, Selbstreferentialität abzubilden und zwar in einer der Substantialität enthobenen Sprache des Formalen, womit sein Kalkül den Anspruch erhebt, die Form der Unterscheidung operational aufbereiten zu können. [2]

Dabei erscheint die Unterscheidung, deren Notation sich im mark of distinction (.|) ausdrückt, als eine Aufteilung, die den vormals homogenen Raum in zwei nun durch diese Grenzlinie getrennte Räume scheidet. Die Unterscheidung, die sich gemäß des mark vollzieht, definiert sich demgemäß als das Setzten einer Grenze im Raum "with seperate sides so that a point on one side cannot reach the other side without crossing the boundary" [3], wobei die konvexe Seite des mark dessen Außenseite bildet, die konkave Seite als Innenseite erscheint.

Dieser Innenseite gilt es, besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, insofern sich hier die Aspektdoppelung der Unterscheidung erkennen läßt, die den Akt der Unterscheidung zum einen in seiner prozessualen Dimension erscheinen läßt, womit das Ziehen der Unterscheidung mit dem Setzen des mark koinzidiert, und die zum anderen das resultativ Unterschiedene generiert, was bei Spencer Brown durch den indizierten Wert der Unterscheidung auf der Innenseite des mark angezeigt wird (p|). D.h. Unterscheidung erschöpft sich nicht darin, als Akt der Grenzziehung reine Teilung des Raumes zu sein (distinction), sondern ist immer und gleichzeitig auch die Bezeichnung (indication) der nunmehr generierten Seiten des mark.

Diese Bezeichnung liefert aber mehr als das bloße Erkennen von Innen- und Außenseite, insofern das Diesseits der Grenze, also der Inhalt der Innenseite einen Wert annimmt, der als value of the expression auch benennbar ist. Somit vollzieht die distinction, indem sie ein Eines gegen ein Anderes in Opposition setzt, simultan auch die indication, da sich eine Unterscheidung immer nur sinnvoll anhand als unterschiedlich erkannter Kriterien vollziehen kann. Diese Kriterien sind aber - einmal gebildet - auch benennbar. D.h. von Unterscheidung in ihren vollen Gehalt kann erst dann gesprochen werden, wenn sie als wechselseitige Gründung und Verwiesenheit von Unterscheidendem ( |) und Unterschiedenem (p|) verstanden wird, die sich im selben Akt simultan generieren. Genau hierin aber bestand das Problem, das sich hinsichtlich seiner adäquaten Abbildung als dieses prozessuale Sowohl-als-auch der Darstellung dem Rahmen der Positivsprache entzog. Wenn nun für Spencer Brown eine Unterscheidung aber auch in jenem simultanen Zugleich von distinction und indication besteht, muß diese Dialektik in irgendeiner Form Eingang in seinen Kalkül finden.

Es zeigt sich, daß das Problem zwar explizit reflektiert wird, die von Spencer Brown projektierte Lösung jedoch nicht der eigentlichen Dialektik der Problemstellung gerecht wird. Dies insofern als er der paradoxal anmutenden Situation, daß eine Unterscheidung die doppelte Funktion von Bezeichnung und Unterscheidung zugleich erfüllen soll, dadurch zu entgehen sucht, daß die Unterscheidung in einer zirkulären Bewegung wieder in das von ihr vormals Unterschiedene eintritt. Mit der Figur des re-entry wird nun aber nicht ein dialektisches Wechselspiel initiiert, da die damit beschriebene Zirkularität sich letztlich wieder in eine lineare Darstellung überführen läßt. Zwischen Unterscheidung und Unterschiedenem läßt sich auch durch das Zurückbiegen der Form der Unterscheidung in das von ihr Unterschiedene eine eindeutige Zeitenfolge nicht umgehen, vielmehr tritt das Verhältnis als ein Abhängigkeitsgefüge von vorzeitiger distinction und nachzeitiger indication in der Figur des re-entry erst deutlich hervor, nicht zuletzt indiziert durch die Präfigierung des Terminus. D.h. wenn mark und value nicht als zwei Seiten einer Medaille aufgefaßt werden, die simultan sich wechselseitig generieren, sondern als zeitlich-zirkulär vermittelte Größen gelten, dann geht die Rede von Selbstreferentialität eigentlich fehl, und verschleiert die implizit angelegte Unendlichkeit in der Stufenfolge von Gründen und Begründen.

Damit erweist sich das Scheitern des Spencer-Brown-Kalküls als ein Kalkül der Selbstreferentialität, insofern er nicht in der Lage ist die hierzu notwendige Dialektik, bzw. Chiasitik abzubilden. Selbstbezüglichkeit als die duale Lesart des Satzes vom Unterschied bedarf aber gerade einer nicht mehr monokontexturalen Fundierung, da die simultane Umkehr von Operator und Operand sich allein von einem heterologischen Standpunkt her konsistent denken läßt. Erst Heterologie, resp. Polykontexturalität ermöglicht dieses Zugleich, in dem sich das Selbe auf sich selbst als das Gleiche rückbezieht.

3. Damit aber ist ein Bereich angesprochen, der sich dem Denken der Identität, des Ursprungs, der Linearität entzieht, aber auch der Präsenz und dem Seienden selbst, insofern Selbstbezüglichkeit ihre operationale Darstellung, und das heißt ihre prozessuale Abbildung, nur in einem strukturalen, non-substantialistischen Raum erfahren kann. Es ist hiermit jene Dimension angesprochen, die sich den Bestimmungen des Positiven und Negativen selbst noch entzieht, insofern diese Dichotomie sich allein auf der Basis der materialen Affirmation und Negation ereignen vermag. Denn Affirmation und deren negatives Spiegelbild, die Negation, verbleiben gerade als Zu- und Absage an Seiendes immer noch in dem dem Nichts/Sein nachgeordneten Bereich des Vorontologischen, des Ontischen. Erweist sich das reine Nichts/reine Sein somit als eine Dimension, die ein Jenseits markiert, das die Alternative von Position und Negation, Ja und Nein, 0 und 1 in die ontische Diesseitigkeit möglicher Entscheidungen verbannt, so läßt sich dieses Diesseits der Menge der vorliegenden Entscheidung, als die Positivität erkennen. Dieser Positivität aber steht die Negativität gegenüber, als jener Bereich der basalen Ermöglichung, oder mit Heidegger gesprochen der Gabe und Spende, daß Seiendes sich überhaupt ereignen kann. Es ist dies der Bereich, in dem sich das Geschehen des Ereignisses ereignet, denn das Ereignis "erbringt das An- und Abwesen in sein jeweilig Eigenes, aus dem dieses sich an ihm selbst zeigt und nach seiner Art verweilt." [4]

D.h. aber, daß dasjenige, woraufhin das Ereigneis als der eröffnende Raum fungiert, wieder eine Form der Präsenz ist, die gleichzeitig als die Ebene angesehen werden muß, auf der sich der Sinn von Sein erkennen läßt. Das Ereignis bleibt somit ein seinthematisches Paradigma, das, selbst raum-zeit-transzendent, dem Sein die Gewähr ist, sich anwesend-präsentisch zu ereignen. Somit ist das Ereignis zwar eine Figur, die sich in der "Tropik der Negativität" verorten läßt, die sich aber als das geforderte "Denken des Außen" nur im Sinne eines genitivus objektivus verstehen läßt. Denn eine Interpretation als das Denken, das sich im Außen vollzieht, das das Außen selbst vollzieht und das damit das kategorial andere wäre, verbietet sich hier, da das Ereignis zwar jenseits der Grenze gedacht wird, jedoch aus dem Diesseits heraus und funktional so angelegt, wieder in dieses zurückzukehren, in der unlöslichen Konnektivität von Sinn und Sein.

Dagegen gilt es dann aber, vollständig im Bereich der Negativität zu verharren, somit"die Möglichkeit von Sinn zu bestimmen, ausgehend von einer 'formalen' Operation, die in sich selbst keinen Sinn hat, was nicht heißen soll, sie sei der Unsinn oder die beängstigende Absurdität ..." Ein solches, das sich struktural und funktional zur Gänze dem der Positivität und Präsenz unterworfenen Logos der Beschreibung entzieht, das sich restlos in der Negativität verschließt, findet Derrida in der chora, jenem triton genos, das Platon im Timaios als das dritte Geschlecht dem Seienden und Werdenden als den Ort ihres "Woraufhin der Ermöglichung" zur Seite stellt. Dasjenige, was unter chora gedacht werden muß, vollzieht also seine vollständige Bewahrung in der Andersartigkeit, da die chora, die selbst nichts mehr gibt und figuriert, keinem Telos folgt, welches sie in die Diesseitigkeit der Präsenz zurückführte. Brachte das Ereignis als Ermöglichung von Sinn diesen Sinn hervor, insofern Seiendes in sein Anwesen gelangte, also Sinn immer präsentischer Sinn von Sein war, so transformiert die chora, als dasjenige, was sich nicht nur in der Negativität "lokalisieren" läßt, sondern was aus dieser Negativität nichts hinaus sendet/spendet, auch die Bestimmung von Sinn. Das Ereignis spendet den Sinn, die chora ermöglicht Sinn, und dieser Sinn kann nun nicht mehr verstanden werden als derjenige, der sich aus dem Anwesen erkennen läßt, da die Ermöglichung von Sinn mit der chora radikal im Jenseits der Grenze, in der Negativität beschlossen bleibt.

Wenn Sinn also ermöglicht wird, ohne sich in dieser Ermöglichung in irgendeiner Weise dem Sein, der Präsenz zu verdanken, sondern sich alleine aus der Negativität ereignet, dann muß sich sagen lassen, daß der Sinn nun nicht mehr der der Präsenz ist, sondern jener, der sich, um mit Heidegger zu sprechen, als die aletheia der Negativität ergibt, also als das, was bei Gotthard Günther die Wahrheit der Negativität des Nichts heißt. [5] Sinn aus der Negativität, Sinn der Negativität, ist demnach Sinn, der sich erstellt aus dem verborgenen "Geschehen" der chora, die ihn, sich ihm entziehend, ermöglicht. Somit führt die chora "eine Dissoziation oder eine différance in den eigentlichen Sinn ein, den sie möglich macht, und zwingt auf diese Weise zu tropischen Umwegen, die nicht mehr Figuren der Rhetorik sind." [6]

Hier ist deutlich das Bemühen zu spüren, das Jenseits der Grenze in seiner vollkommenen Andersartigkeit bestehen zu lassen, die sich selbst einer Titulierung aus dem Diesseits verschließt, denn die Possesivität des Eigennamens ereignet sich stets als die - dann der Existenz ihres Signifikats selbst benommene - (Re)Präsentation. Hier spricht sich das Wissen darum aus, daß die chora sich zur Gänze in der Negativität verschlossen hat, die ein Eindringen auf dem Boden der Positivsprache verunmöglicht. Sie zieht sich vor dem Namen zurück, jedes Benennen stößt sie von sich anstatt sie zu erreichen, und stellt die Rede damit vor die Frage, "Wie davon sprechen?". [7]

4.Was bis hierhin erreicht wurde, läßt sich als eine Eingrenzung dessen verstehen, was den "Prozeß der Sinngebung als Ganze[r]" [8] ermöglicht, es ist bis hierhin der Raum abgesteckt und als solcher allererst erkannt, der die Semiosis in ihrer Prozessualität gewährleistet. Dabei jedoch zeigt sich, daß das Sprechen, das sich anschickt, den umgrenzten Raum mit Konkretion zu füllen, seinen Gegenstand stets verliert. Da das gesuchte "Wie" des Sprechens sich bislang immer auf die Sprache als Positivsprache erstreckt, sie somit in deren grundsätzlicher, d.h. identitätstheoretischer Problematik verfangen bleibt. Dieses unter dem "Wie" erfragte aber läßt sich nur sinnvoll unter dem Kunstwort der différance denken, da das Zeichen seinen "positiven" Gehalt nun nicht mehr aus der Präexistenz von Signifikat/Signifikant, sondern allein aus der Entgegensetznung, Unterscheidung gegen anderes beziehen kann. D.h. nicht die Identität des atomistischen Zeichens verspricht, den Sinn zu generieren, sondern die Differenz. Damit verbleibt die Ermöglichung der Semiosis im Gegensatz zur Heideggerschen Konzeption des Ereignisses aber vollständig in der Negativität, wenn diese nun die Bedingung bereithält, daß sich Sinn non-repräsentational generiert, wenn Negativität zum basalen Ermöglichungsgrund wird, der gewährleistet, daß Anwesenheit sich nicht in der positiven Gestalt der Präsenz, des Seins ereignet, "sich als solches ankündigt in dem, was es nicht ist." [9]

Am Ende stellt sich also die Frage nach der Möglichkeit der Anwesenheit des Anderen, d.h. die Frage nach Anwesenheit des Abwesenden, heraus als die Frage nach der Möglichkeit der Differenz überhaupt. Es wird also die Suche sein nach der Differenz, der Differenzierung in dem gedoppelten Sinn des aktual/resultativen, die Suche nach jenem Raum, in dem sich das Selbe und das Andere nicht mehr in der gewohnten Dichotomisierung gegenüberstehen. Es wird die Suche sein nach jenem Raum, dem Derrida den Namen der Spur gibt, der sich jedoch als das Außen nur in dieser Metapher ankündigt, ohne der repräsentationalen Sprache selbst zugänglich zu sein, deren Bedingung er als die Möglichkeit von Differenzierung erst ist.

Das Denken, das die Ermöglichung von Sinn in der différance mit ihrem wechselseitigen Gründungsverhältnis von Anwesenheit/Abwesenheit erkennt, hat sich jäh dem Paradigma der Identität, der Präsenz entledigt. Doch die Sprache, in der sich dieser Prozeß der Verabschiedung vollzieht, ist immer noch die der Repräsentation, der Positivität, aus der auch die von Heidegger und Derrida vollzogenen Durchstreichungen und mittels Anführungszeichen angestrebten "Uneigentlichkeiten" kein Entkommen leisten.

Es bleibt also der Anspruch Günthers gerechtfertigt, der eben diesem Dilemma zu entkommen sucht, indem er eine Sprache konzipiert, die nicht mehr auf das positive Sein referiert, die Negativsprache. Demgemäß ist "dieselbe [...] keine Sprache, die in dem uns vertrauten Sinne Erkenntnisse vermittelt, die sich auf ein vorgegebenes Sein beziehen." [10] Negativsprache erschöpft sich aber nicht darin, eine künstliche Sprache zu sein, die den natürlichen Sprache gegenüber gestellt würde, denn auch künstliche Sprachen bleiben dem signifizierenden Konzept der Positivsprache verhaftet. Auf der anderen Seite heißt Negativsprache aber auch nicht, Umgangs- oder Positivsprache zu formalisieren und dem Gesetz der Zahl zu unterwerfen, "sondern die Bedingungen der Möglichkeit von natürlicher und künstlicher Sprache überhaupt sollen eingeschrieben werden." [11]

Wenn nun Negativsprache darauf zielt,"ohne Verdinglichung die verdrängte Genese der Semiotik einzuschreiben" [12], und wenn als deren Bedingung die Differenzierung erkannt wurde, dann muß das Hauptinteresse eines solchen Zugangs in der Abbildung der Differenz, in der Darstellung des Prozeses der Differenzierung, der différance liegen. Die Suche dem Außen stellt sich somit konkret als die Frage, nach dem, "das selber noch nicht Begriff oder Idee ist, was aber als Baustein dienen muß, wenn Sinn und Idee erschaffen werden soll". [13]

Dabei erscheint der von Günther hier angeführte Baustein gerade nicht mehr in der von diesem Begriff nahegelegten Identität, "sondern ist eine Funktion des Relations-zusammenhangs, in dem er erscheint." [14] Solcherart geht die Suche also auf ein nicht-substantielles, d.h. präsemiotisches Beziehungsgefüge, das in der Lage ist, die simultane und wechselseitige Gründung von Unterschiedenem und Unterscheidendem abzubilden, was nichts anderes bedeutet als die nicht-positivsprachliche Darstellung der Mechanizität der différance.

5. Innerhalb der Güntherschen Relationslogik besteht eine Relation aus den beiden Relationsgliedern von Relator und Relatum, bzw. eine Operation aus Operator/Operand. Dabei stehen Operator und Operand in einem eindeutig gerichteten Ordnungsverhältnis, das relationsintern absolute Gültigkeit besitzt. Allerdings erfährt diese Hierarchie interrelational eine Relativierung dahingehend, daß der Operator einer Relation in Bezug auf eine andere Relation als Operand erscheinen kann, ebenso wie dieser Umtausch für den Operanden der ersten Relation gilt. Somit läßt sich für zwei Relationen bzgl. ihrer Operatoren/ Operanden insgesamt ein Verhältnis von sowohl Ordnungs- wie auch Umtauschbeziehungen feststellen. Relationsintern besteht ein eindeutiges Ordnungsgefüge, während zwischen den jeweiligen Relationen hinsichtlich ihrer Operatoren/Operanden ein Umtauschverhältnis herrscht.

Dieses komplexe Zusammenspiel von Ordnung und Umtausch wird von einer eigenständigen transklassischen Relation geregelt, die Günther unter dem Namen Proemialrelation einführt. Proemialität kann also als jene Eigenschaft bzw. als jenes Verhältnis verstanden werden, das erlaubt, hinsichtlich verschiedener Bezugssysteme ein und dasselbe Datum in verschiedener und nun funktionaler Rolle zu erfassen. Was in Bezug auf die eine Relation als Relator auftritt, gilt der anderen als Relatum und (dann allerdings zwangsläufig) umgekehrt.

Damit ist aber gleichzeitig offenbar, daß hiermit der Rahmen der Monokontexturaltät verlassen ist, insofern Diskontexturalität die notwendige Bedingung dafür ist, daß das klassische Identitätstheorem widerspruchsfrei außer Kraft gesetzt werden kann, wobei dieses Außer-Kraft-Setzen sich nur auf den interkontexturalen Raum bezieht. Proemialität erweist sich also als ein, wenn nicht der Fundamentalbegriff der Polykontexturalitätstheorie, insofern es mit seiner Hilfe möglich ist, jene die Eindeutigkeit der klassischen Logik vergiftende Überdetermination begrifflich klar ohne jegliche Ambiguität zu erfassen.

Überdetermination, d.h. die Eigenschaft, daß ein und dasselbe Datum simultan zwei verschiedene und innerhalb einer Kontextur betrachtet widersprüchliche Funktionen erfüllen kann, ist aber die notwendige Voraussetzung einer möglichen Abbildung von Dialektik. Solcherart hebt Proemialtät die Statik eines Identitätsdenkens auf und überführt sie in eine Dynamik, in der das simultane Zugleich innerhalb der Überdertermination beider Verhältnisglieder die Dialektik aufzufangen vermag, die den Unterschied als eine Operation erscheinen läßt, die einen Unterschied ausmacht. Erst jetzt aber, nachdem das intrikate Vermittlungsverhältnis von Operator und Operand sich unter polykontexturalem Blick einem eindeutigen begrifflichen Zugang nicht mehr verschließt, füllt sich diese scheinbar tautologische Formulierung mit Gehalt. Denn wenn Tautologie als Zirkularität verstanden wird, in der das zu Erklärende mit der Erklärung synonym ist, dann entspricht die Form der Tautologie gerade dem simultanen Zugleich, in dem der Operator als Operand erscheint und umgekehrt.

Kontextural vermitteltes Ordnungs- und Umtauschverhältnis von Operator und Operand stellt aber für sich genommen nur ein funktionales Schema dar, das sich als Denkfigur zwar durchaus als fruchtbar erweist, die Mechanizität der différance zu erfassen, das sich jedoch wie gesehen noch vollständig auf dem Boden der Positivsprache entfaltet. Es bedarf also weitergehend eines Transfers dieses Schemas, auf jenen der Positivität und Identität des Seins sich entziehenden Bereich, aus dem heraus sich die différance, chora etc. speisen. Transformation und Transposition des beschriebenen Schemas auf die Dimension der Negativität heißt solcherart, die Gründung und Applikation dieser Mechanizität in einem Rahmen, in dem nicht mehr positives Sein begegnet, in dem nicht einmal Substantialitäten der Positivsprache Statt haben, die in ihrem Differenzgehalt allererst unterschieden werden könnten.

Totale Reduktion des Seins heißt dann aber in letzter Konsequenz, auch Abschied nehmen von der letzten Bastion der Positivität im logischen Kalkül, heißt Abschied nehmen von der dort tradierten Wertbelegung. Abstraktion von jeglicher Wertbelegung des Formalismus gilt als das Vordringen auf eine Ebene, die präsemiotisch und prälogisch als reiner Strukturbereich das Zusammenspiel und Funktionieren von non-designativen Leerstrukturen umfaßt, welche sich als Suprastrukturen demgemäß nicht mehr in der Dichotomie "wahr-falsch" wiederfinden.

Erhebt sich nun die Frage, was eine solche Abstraktion überhaupt noch beläßt, so sei zunächst umgekehrt die Frage aufgeworfen, was diese Dimension erbringen muß, welche Anforderungen methodisch an sie ergehen.

Gilt der Strukturalismus als ein System von Differenzen, das deren Spiel jedoch in der Analyse positiver Distinktionen erkennt, so kann aus der Analogie eines sich hier abzeichnenden "Strukturalismus des Strukturalismus" gesagt werden, daß dieser sich als ein Differenzsystem eines Differenzsystemes darstellen muß. D.h. traten zuvor Werte in Differenz, so gilt es nun unter Absehen von diesen Werten, Differenzen selbst in Differenz zu setzen, womit hier eigentlich das Spiel der Differenzen begegnet, wenn sich Unterschiede als Unterschiede gegeneinander unterscheiden. Die Frage nach der Form der Abbildung erweist sich als die Frage nach der Form der Form, die als eine operationale Notation gefordert ist, innerhalb derer kein positives Datum mehr Statt hat, in der Differenzen als Differenzen eingeschrieben werden, in der somit ein Nichts eingeschrieben wird, das nicht nichts ist.

Der Ort dieser Einschreibung und sein Griffel finden sich in der von Günther konzipierten Kenogrammatik bzw. dem Kenogramm. (griech. kenos = leer) Dabei wird unter einem Kenogramm eine Leerform verstanden, die die Fundierung der die klassische Logik gründenden Wertbelegung vollzieht, indem sie gerade von dieser Wertbelegung, also vom letzten Überrest absieht, der sich "auf den kontingent-objektiven Charakter der Welt bezieht" [15], sie also jenseits der Wertdualität "wahr-falsch" angesiedelt ist. Solcherart bereitet Kenogrammatik den Raum innerhalb dessen sich die Differenz notieren läßt als der reine Unterschied zweier Kenogramme, ohne dabei jenem infiniten Regreß der Selbstbegründung zu erliegen, wie er sich unausweichlich einstellt, sucht man die Differenz als Differenz im Bereich der Positivität zu erfassen. Drängt sich dort nämlich unumgänglich die Frage nach dem Identität generierenden Konzept der zu unterscheidenden Entitäten auf (Ich brauche einen Unterschied, um unterscheiden zu können; ich muß unterschieden haben, um einen Unterschied zu markieren.), so führt dies zwangsläufig wieder zurück auf jene klassisch-logisch nicht zu bewältigende Zirkularität, die sich auf dem Boden des Ursprungsdenkens ergeben muß.

In der polykontexturalen und proemial vermittelten Notation zweier unterschiedlicher Kenogramme entfällt jedoch das Problem eines solchen Konzeptes, da ihre Funktion allein darin besteht, das jeweilige "nicht" gegenüber dem Anderen zu markieren, wobei sie im gleichen Moment - von jeglicher Substantialität befreit und im proemialen Umtausch situiert - auch über den Verdacht der an dieses Konzept geknüpften Identität erhaben sind. Damit erscheint eine Kenogrammsequenz, der Günther den Namen Morphogramm gibt, dann eigentlich als Einschreibung des Unterschiedes, der différance in ihrem gedoppelten Gehalt. Denn nun ist allerst die Möglichkeit gegeben, Unterschiedenes und Unterscheidendes in eine Form zu bringen, die nicht mehr der Frage der Vorgängigkeit des einen oder anderen unterliegt. Hiermit wären also die positivsprachlichen Ein- und Umgrenzungsversuche Heideggers und Derridas in die konsitente Form der Morphogrammatik überführt.

Andererseits bedeutet eine solche Struktur von Leerformen, innerhalb derer die monokontexturale Starrheit des Identitätstheorems sowie des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten zugunsten einer proemial vermittelten Dynamik hinsichtlich Operator/Operand aufgegeben ist, daß sich die selbst für den so abstrakten Formalismus Spencer Brown's noch unüberwindlich stellende Frage der Überdetermination und Identität nun in einem das Ursprungsdenken endgültig verabschiedenden Formalapparat aufheben läßt. Denn benötigte Spencer Brown den in den infiniten Regreß führenden Ausweg des re-entry, um die Selbstreferentialität der Unterscheidung zu gewährleisten, so bietet die Proemialität von Operator/Operand, Unterscheidendem/Unterschiedenem hier erstmals die Möglichkeit, Linearität und temporaler Sukzession vollständig zu entkommen, um an deren Stelle eine wechselseitige Gleichursprünglichkeit zu installieren, und zwar in einer begrifflich und methodisch konsistenten Form.


Footnotes

[1]vgl. G. Bateson: Ökologie des Geistes. Frankfurt/M 31990, etwa S. 353; 408; 582

[2]G. Spencer Brown: Laws of Form. New York 1972

[3]a.a.O., S. 1

[4]M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959, S. 258f

[5]G. Günther: Beiträge zu einer operationsfähigen Dialektik. Hamburg 3 Bd. 1976-1980, Bd. III, S. 285

[6]J. Derrida: Wie nicht Sprechen? S. 68

[7]a.a.O., S. 69

[8]J. Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt/M 1978, S. 37

[9]J.Derrida: Grammatologie. Frankfurt/M 21988, S. 82

[10]G. Günther: Beiträge. Bd. III, S. 294

[11]R. Kaehr: Einschreiben in Zukunft. Bemerkungen zur Dekonstruktion des Gegensatzes von Formal- und Umgangssprache in der Güntherschen Theorie der Negativsprachen und der Kenogrammatik als Bedingung der Möglichkeit extra-terrestrischer Kommunikation. In: ZETA 01 - Zukunft als Gegenwart. Berlin 1982, S. 191-238, hier S. 201

[12]J. Ditterich, R. Kaehr: Einübung in eine andere Lektüre. Diagramm einer Rekonstruktion der Güntherschen Theorie der Negativsprachen. In: PhJb.86, 1979 2. Hb., S.385-408, hier S. 387

[13]G. Günther: Identität, Gegenidentät und Negativsprache. Hegel-Jahrbuch 1979, S. 22-88, hier S. 44

[14]a.a.O., S. 36

[15]G. Günther: Beiträge. Bd. I, S. 216


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