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"Kurt Klagenfurt"
Technologische Zivilisation und transklassiche Logik

Eine Einführung in die Technikphilosophie Gotthard Günthers
© Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1995

II
4. Subjektivität


[...]

Im klassisch-logischen Rahmen orientiert sich das Denken an der ursprünglichen Idee, daß das Objektive absolut sei. Im Verlauf des kollektiven Denk- und Erkenntnis-prozesses nähern sich die Subjekte immer mehr der Wahrheit des Objektiven an, damit nähern sie sich aber auch untereinander, denn das, was objektiv wahr ist, ist auch für alle denkenden bzw. erkennenden Wesen gleichermaßen verbindlich. Es kann nach dieser Vorstellung nur eine Wahrheit geben, eine umfassende Kontextur. Die Aufgabe dieses Gedankens im klassisch-logischen Rahmen hätte die Folge, daß keine logische Grundlage für eine intersubjektive Übereinstimmung zwischen den Menschen mehr gäbe.

Die Differenz zwischen internem Beobachter und dem externen Beobachter, der sich den internen zum Objekt macht, ist auf logischer Ebene dieselbe wie zwischen einem "Ich", das ein anderes Subjekt in der Form des "Du" als Objekt des Denkens besitzt. Subjektivität ist ein Phänomen, das über den logischen Gegensatz des "Ich als subjektivem Subjekt" und des "Du als objektiven Subjekt" verteilt ist, wobei beide ein gemeinsame vermittelnde Umwelt haben.

In der Selbstreflexivität wird das Ich-Subjekt sich selber als Subjektivität bewußt, begegnet sich selbst als Pseudoobjekt. Das heiß, in der auf sich selbst bezogenen Reflexion erscheint das persönliche Ich als passives Objekt, auf das wir unsere aktive Aufmerksamkeit richten. Richtet sich der Blick des Ich-Subjekts nun auf ein anderes Du, so findet es in dieser hetero-referentiellen Beziehung nicht bloß ein Ding vor, denn diese Kategorie trifft ausschließlich die Irreflexivität, das heißt die unbelebte Objektsphäre, sondern begegnet erneut einer Form von Subjektivität. Diese Form der Subjektivität bleibt dem erkennenden Subjekt jedoch ausschließlich als Willensereignis beobachtbar und begreifbar, das heiß, als Ausdruck eines subjektiven Willens, der nicht der unsrige und für uns vollkommen unzugänglich ist. Dies deshalb, weil Ich-Subjekt und Du-subjekt den Raum des gegenseitig vermittelten Mediums ihrer gemeinsamen Umwelt nur über die in diese Umwelt transferierbaren Akte der Handlungen und der Entscheidungen betreten, während Erkenntnisprozessen als intrasubjektive Leistungen der Kognition kategorial vom Eintritt in das Medium ausgeschlossen sind. Die innerphysischen Prozesse der Entscheidungsfindung und Motivationen beim Du sind dem Ich nicht zugänglich. Erst die gefallene Entscheidung, die Handlung, tritt in seinen Gesichtskreis.

Dem Ich tritt das Du genauso in objektivierter Form ins Denken wie der interne Beobachter. Das Verhältnis von subjektivem Subjekt (Ich) und objektivem Subjekt (Du) ist ein Umtauschverhältnis. Vollzieht man einen Perspektivenwechsel von der einen Subjektivität zur anderen, ist aus dem vormaligen Ich ein Du geworden und umgekehrt. Alle zuvor festgestellten logischen Eigenschaften und strukturellen Verbindungen finden sich wieder, allein mit umgekehrten Vorzeichen.

Man könnte das Problem, das durch das Verhältnis von Ich- und Du-Subjektivität erzeugt wird, als innerphilosophisches Problem abtun, wenn nicht eines der zentralen Ziele der KI-forschung darin bestünde, diese Subjektivitätsfaktoren mit den Mitteln der Computertechnologie zu modellieren. Das Problem besteht darin, daß der Gegenstand der Beobachtung, die Du-Subjektivität, nicht einfach durch seine Eigenschaften bestimmbar ist, sondern, wie zuvor angedeutet, darüber hinausgehend durch seine Fähigkeit charakterisiert werden muß, selbst zum Beobachter zu werden. Das heißt, Subjektivität ist nicht auf ein einzelnes Subjekt beschränkt, sondern verteilt sich auf viele Subjekte, die Wechselweise sowohl in der Funktion des Ich, als auch der des Du aufscheinen können. Eine solche Konstellation erscheint zunächst als evident, spiegelt sich in ihr doch die alltägliche Erfahrung wieder, in der Individuen einander empirisch begegnen. Sie aber führt sofort zu der Frage, zumindest in ihrer klassischen skeptisch-solipsistischen Variante, wie der Nachvollzug der Erfahrungen des Anderen, wie die Anerkennung einer anderen Subjektivität möglich sei? Denn ihre gegenseitigen Bewußtseinsräume und -inhalte sind ihnen ja prinzipiell unzugänglich. Sie bleiben in der Introszendenz des Subjektiven eingeschlossen. Die Antwort Gotthard Günthers lautet, sie sei möglich, weil die Erfahrung des Anderen darauf beruhe, "daß das Ich in der Selbstreflexion eine Akt vollzieht, in dem es die Fremd-Reflexion (...) als fremde Selbst-Reflexion anerkennt". Diese Anerkenntnis einer anderen Subjektivtät, die dem Ich als Du entgegentritt, ist insofern zwingend, als auch das Ich relativ zu dem Anderen als Du bestimmt wird und darin als Subjekt anerkannt und bestätigt sein will. Das heißt, die Notwendigkeit der Anerkenntnis der Subjektivität des Anderen ergibt sich aus der Unmöglichkeit, sich seiner eigenen Subjektivtät ohne diese Anerkenntnis selbst gewiß zu werden. Denn wenn "das Ich die subjektive Selbst-Gewißheit seines Denkens nie auf das Du übertragen kann und von dem Du dasselbe gilt, dann erstreckt sich diese Unübertragbarkeit auch auf jenes Moment der Wahrheit, das als Erlebnisevidenz an die private Introszendenz des isolierten Subjekts angeschlossen ist".

Entscheidend hierbei ist, daß die Evidenz der Selbsgewißheit sich nicht mehr auf die cartesische Introspektion des "cogito" gründet: Evidenz wird gerade nicht mehr als das unmittelbare Gewißwerden des Subjekts von sich selbst gesehen, sondern tritt stets als Vermitteltes auf. Die notwendige Vermittlung ist aber kein objektiv gegebener Gegenstand. Sie ist vielmehr ein kognitiver Akt, der aus dem Gegensatzverhältnis zwischen Ich und Du resultiert. Dabei muß das Du als eigenes Thema formuliert werden. Auch wenn es aus der Perspektive des Ich innerhalb des objektiv gegeben Gegensatzbereichs auftritt, ist es für sich selbst ebenfalls ein Ich. Um dieser doppelten Verfaßtheit des Du gerecht zu werden, müssen die Verhältnisse zwischen zwei Subjekten sowie das Verhältnis zwischen einem Subjekt und der gegenständlichen Wirklichkeit, in die beide eingebunden sind, unterschieden werden. Damit ist die einfache Dualität von Subjekt und Objekt in eine Dreiheit von Subjektivem Subjekt, objektivem Subjekt und Objekt überführt.

Für das Verhältnis zwischen dem subjektiven Subjekt und dem Objekt, mit dem es konfrontiert wird, gilt, daß die Identität des Objekts von dem Reflexionsprozeß des Subjekts nicht berührt wird. Es ist mit sich selbst identisch (Seinsidentität). Das Subjekt hingegen markiert einen reflexiven überschuß, der zu einer Differenzierung des Identitätsbegriff zwingt. Es muß nicht nur zwischen der Identität, wie sie für den irreflexiblen Bereich des Seins als Seinsidentität bestimmt wird, und der Identität des Subjektes unterschieden werden, sondern auch zwischen einer Ich- und einer Du-Subjektivität. "Damit fällt die ursprüngliche Metaphysische Subjekt-Identität fort. An ihre Stelle treten die drei Identitätsprinzipien, die wir als:

  1. Seinsidentität
  2. Reflexionsidentität
  3. Transzendentalidentität

bezeichnen wollen". Auf diesen Sachverhalt hatten wir weiter oben bereits hingwiesen.

In dem Akt, in dem sich das Ich vom bloßen Objekt absetzt, um dieses als das Andere, das Fremde außerhalb seiner zu begreifen, wendet sich die Reflexion nach innen. Die daraus resultierende Reflexionsidentität kann man als reine Innerlichkeit verstehen, aus der jedes Objekt ausgeschlossen ist. "Sie stellt das Subjekt dar, das in seiner eigenen Reflexion selbstbeschlossen ruht.".

Da auch jedem Du diese Reflexionsidentität zukommt und dies aus der Perspektive des Ich gesehen werden kann, versteht Gotthard Günther das Bild des Du als das Bild des Ichs, das aus dem Verhältnis zwischen objektivem Subjekt und Objekt entwickelt wird. Da das Du innerhalb der Gegenstandswelt des ich auftaucht und zugleich als Subjekt anerkannt wird, stellt es die Identität von Subjekt und Objekt dar - jene dritte Identitätskomponente, Gotthard Günther Transzendentalidentität nennt.

Innerhalb der klassischen formalen Logik kann das Du nicht als eigenes Thema behandelt werden, vielmehr wird vom Unterschied zwischen Ich und Du zugunsten eines universalen Subjekts abstrahiert, das alle Subjekte umfaßt. Dieses stellt gleichzietig die absolute Identität von Subjekt und Objekt dar, ohne den Reflexionsprozeß als solchen einzubeziehen. Die von Günther geforderte Differenzierung der metaphysischen Seinsidentität kann erst zwischen Subjekt und Objekt eine dritte Komponente einführt, den reflexiven Prozeß, der einer reflexionsthematischen Formulierung des Du-Problems entspricht.

Schema

Ich- und Du-Subjekt treten einander praktisch gegenüber, als Handelnde. Du-Subjektivität ist dem erkennenden Subjekt ausschließlich als Willensäußerung erkennbar. Die ihre zugrundeliegenden innerpsychischen Prozesse der Kognition, Motivation und Entscheidungsfindung sind dem Ich nicht zugänglich. Das gleiche gilt aus der Sicht des Du. Beide stehen in einem Umtauschverhältnis zueinander. Entscheidend für die Positionierung ist die Perspektive, die der jeweilige Beobachter einnimmt, die Relation, in der beide, Beobachter und Handelnder, zueinander stehen. Dieses Wechselspiel ist für jedes Subjekt kennzeichnend. In der klassischen Sicht wird die Wahrheit durch das Sein definiert, welches von dem Subjekt kontemplativ aufgenommen wird. Auf der anderen Seite bleibt das Subjekt keineswegs stehen bei der Betrachtung der Welt, sondern handelt, ist Teil der Welt und verändert diese, schafft sich seine Wahrheit selbst.

In der klassischen Weise kann sich das Subjekt im objektiven Sein lediglich spiegeln, es kann sich dabei aber nicht als tätiges Subjekt erfahren, das Abbilder produziert. Der Prozeß der Abbildproduktion kann nicht in gleicher Weise beschrieben werden, wie objektiv gegebene Gegenstände. Dies würde gerade das Prozeßhafte auslöschen, würde nur Zustände beschreiben. Das Subjektive als Prozeß, als Handlung, kann in der klassischen Logik nicht modelliert werden, das Subjekt erscheint stets als Pseudoobjekt. Hieraus resultiert die Unendlichkeit der Metaebenen, weil jeder Versuch, in einem weiteren Schritt dem Subjekt näher zu kommen, wieder in einer Verobjektivierung des Subjekts mündet, von der sich das Subjekt wiederum distanziert.

Günther sieht das Charakteristische der Subjektivität gerade darin, daß das Subjekt Entscheidungen trifft, handelt, in einer Weise, die für ein anderes Subjekt nicht berechenbar und durchschaubar ist. Der Denk- und Erkenntnisprozeß eines anderen Subjekts ist prinzipiell nicht sichtbar. Sichtbar ist nur das Produkt des Denkens und Entscheidens, die konkrete Handlung.

Während im klassischen Denken die Wahrheit ausschließlich im Sein gesucht wird, besteht das Wesen der Subjektivität gerade darin, das Sein zu verändern, es seinen Bedürfnissen anzupassen. Damit wird, erkenntnistheoretisch, das ganze Spektrum des Möglichen bedeutsam, das, was nicht ist, aber werden könnte. Dies wird durch aktuelle Strömungen des radikalen Konstruktivismus grundsätzlich thematisiert. Allerdings wird auch diese Position auf einer Metaebene formuliert, während der formale Apparat nach wie vor der klassischen Metaphysik verhaftet bleibt. Die Antwort Günthers lautet, es reiche nicht aus, das klassische Hierarchieverhältnis - das Sein bestimmt das Bewußtsein - umzukehren und nun idealistisch die Welt als Produkt des menschlichen Gehirns zu begreifen. Nach Günther besteht die Frage nicht darin, ob das Ich (Subjekt) erkennend dem objektiven Sein gegenübersteht oder aktiv das Sein gestaltet, es tut immer schon beides. Das Subjekt wird in eine Umwelt hineingeboren, von der es abhängig ist, deren Macht es sich fügt. Andererseits kann es innerhalb seiner Möglichkeiten Entscheidungen treffen, die Welt durch Handlungen verändern. Analysiert man diese beiden Situationen separat, so zeigen sich zwei entgegengesetzte Hierarchiebeziehungen.

Im ersten Fall sind die Umstände zwingend, das Subjekt wird in eine passive Position gedrängt, es wird von seinen Lebensbedingungen determiniert. Dies ist die klassische Position. Die wahrheit liegt im Sein, sie kann nur besser oder schlechter erkannt werden. Tritt hingegen das Subjekt als handelndes auf, hat sich die Hierarchiebeziehung umgekehrt, das Subjekt verhält sich als Subjekt und macht sich seine Umwelt zum Objekt seiner Entscheidung, seines Handelns. Es handelt sich also um zwei entgegengesetzte Ordnungsrelationen. Sie müssen dennoch miteinander vermittelbar sein, da es sich um dasselbe Subjekt handelt, das sich erkennend und handelnd zugleich verhält. Dies würde in der klassischen Logik zu einem Widerspruch führen, da Subjekt und Objekt nicht innerhalb der einen und einzigen Kontextur vertauscht werden können.

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