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Brief_3: Gödel-Ausgabe: (Goedel_GG_003.doc)

Günther to Gödel

Gotthard Günther
101 Oronoco Ave. (Apt. 2)
Richmond 22
May 23, 1954


Sehr geehrter Herr Professor Gödel:

Vor einigen Tagen erhielt ich Ihren eingehenden Brief vom 15. V., und ich möchte Ihnen hiermit recht herzlich für die darin enthaltene Auskunft danken. Ihr Schreiben hat mir in der Tat einige Punkte, die mir in der Literatur unklar geblieben waren, aufgehellt. Speziell die Mengersche Äußerung, hinter der ich etwas ganz Anderes vermutet hatte. - Ich könnte diesen Brief damit schließen. Wenn ich dies aber nicht tue und Ihnen hiermit einige weitere Gedankengänge unterbreite, bitte ich mir zu glauben, dass ich dies mit Rücksicht auf Ihre kostbare Zeit nur äußerst zögernd tue. Aber ich befinde mich in einer gewissen Zwangslage. Ich bin - abgesehen von den Neo-Thomisten - so ziemlich der einzige Metaphysiker, der davon überzeugt ist, dass man heute nicht Metaphysik treiben kann, ohne die Ergebnisse der symbolischen mathematischen Logik vorauszusetzen. Und die symbolische Logik im Neo-Thomismus (Ivo Thomas z.B.) ist meiner Ansicht nach auf einem Irrweg. Es wird dort nämlich nicht zugegeben, dass der logische Positivismus überzeugend demonstriert hat, dass die klassische ontologische Meta-|physik wissenschaftlich unhaltbar ist. Anstatt die Resultate der Logistik für eine neue Metaphysik zu verwenden, versucht man dort immer noch die mittelalterliche Kirchenmetaphysik (die Fundamental-ontologie) mit mathematischer Logik zu beweisen. Auf der anderen Seite steht Heidegger, der erst kürzlich wieder die Logistik eine "Ausartung", die sich mit einem "Schein der Produktivität" umgibt, genannt hat.[1] - Von diesen Leuten her, können meine Gedanken also keine Kontrolle erfahren. Ich muss mich also schon an mathematische Logiker wenden.

Im Folgenden möchte ich Ihnen einige grundsätzliche Gedanken unterbreiten, in denen mich Ihr Brief noch bestärkt hat. Ich bitte Sie dieselben nur zur Kenntnis zu nehmen, und Sie brauchen diesen Brief nicht zu beantworten. Es sei denn, Sie entdecken in meinen philosophischen Theoremen etwas das positiv falsch auf der Basis Ihrer eigenen Untersuchungen und Ergebnisse sein muss. In diesem Fall wäre ich für einen entsprechenden Hinweis äußerst dankbar:

Die oberste Formel der klassischen Philosophie seit Plato/Aristoteles lautet . D. h. Sein des Seienden. Wir haben also ein zweistufiges Wissen. Empirisches Wissen vom Seienden (Math. & Physik) und apriorisches Wissen vom Sein (Logik & Metaphysik).[2] Dem zweistufigen Wissen entspricht eine zweistufige Objektwelt. Wir haben erstens: den Objektraum als die Vielheit der empirischen Dinge. Dahinter aber steht als zweites, totales Objekt: das absolute Sein.

Kant hat zuerst, transzendental gezeigt, dass das absolute Sein kein wissenschaftliches Objekt sein kann. Seine Demonstration aber war nicht überzeugend, weil sich die Kantische Transzendentallogik nicht formalisieren lässt. In der Logistik ist dann dasselbe Resultat erreicht worden, mit dem Hinweis darauf, dass Prädikatsfunktionen eine Variable enthalten und dass der Wert der Variablen nur empirisch aufgenommen werden kann. "Sein" ist der faktische Argumentwert einer Variablen. Quine: "To be is to be the value of a variable."

Damit aber tauchte eine neue, bisher nicht dagewesene Schwierigkeit auf. Ich will sie so kurz als möglich beschreiben. In der klassischen Tradition zählen das Subjekt des Denkens und der Reflexionsprozess überhaupt nicht. Das Ziel des Denkens ist den Sinn des absolut objektiven Seins zu fassen. Und Wahrheit bedeutet absolute Übereinstimmung des Denkens mit dem absolut objektiven Gegenstand. D.h. alle Kategorien der Logik müssen, wenn sie wahr sein sollen, absolut objektiv definierbar sein. Alles "Subjektive" ist schlechthin zu eliminieren.

Nun kam aber erst die Kritik der reinen Vernunft und erklärte: Dinge an sich sind grundsätzlich keine Objekte des Bewusstseins. Dann kam der logische Positivismus und bestätigte: absolute Objektivität ist eine bloße Fiktion. Überdies hat ca. 1930 Heisenberg in einer bedeutsamen Schrift über die Grundlagen der Quantenmechanik erklärt: "... der absolut isolierte Gegenstand hat prinzipiell keine beschreibbaren Eigenschaften mehr.[3] D.h. die Experimentalsituation des Beobachters muss in die Beschreibung des Objekts mit hineindefiniert werden.

Schön, wenn das aber so ist, dass das absolut objektive Sein nur eine Fiktion ist und wir nur relativ objektiven Seienden begegnen, dann ist die klassische Logik im Irrtum, wenn sie annimmt, dass Objektivität (oder Sein) das einzige rationale Thema des Denkens ist. Das logische Denken hat dann zwei fundamentale Themata: 1.) das empirische (relative) Objekt und 2.) den subjektiven Reflexionsprozess; der sich selbst nur teilweise in pseudo-objektive Kategorien auflösen lässt.

Diese beiden Themata aber werden in der gegenwärtigen Logik in einer höchst unzulässigen Weise miteinander vermischt. In Ihrem Aufsatz <Russell's Mathematical Logic> (Evanston & Chicago 1944)[4] bemerken Sie sehr richtig, dass unser Ziel (aim) ist "... to set up a consistent theory of classes and concepts as objectively existing entities." (S. 152) Andererseits aber bemerken Sie in Ihrem Brief an mich, dass die Differenz zwischen klassischen und intuitionistischen Prinzipien ihren Grund darin hat "dass verschiedene Begriffe des Seins verwendet werden".

Damit aber entsteht die Frage: welcher der verschiedenen Begriffe des Seins soll den "objectively existing entities" zugrunde gelegt werden?

Die Frage ist heute nirgends zureichend beantwortet, weil man sich nicht genügend Rechenschaft über <span style="color: #0000ff; font-style: