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1.1 Der Ausgang aus dem Spenglerschen Geschichtspessimismus


Alle späten Zivilisationen haben [...] eine nihilistische und eine extrem konservative Seite."1 Zu diesem Urteil gelangt Günther in seiner dem Denken Oswald Spenglers verpflichteten Analyse der Spezifikation und Klassifikation historischer Epochen in Kultur- bzw. Zivilisationsstufen, welche am Beginn des unveröffentlichten Fragments Substanzverlust des Menschen zu finden ist.2

Daß und wie diese extreme Polarität sich vereinen läßt, wird deutlich, wenn Günther darauf verweist, daß als das signifikante Merkmal von Zivilisation ihre totale thematische Verausgabung erkannt werden muß. Zivilisation als bislang höchste Entwicklungsstufe der Subjektivität als der des zweiwertigen Bewußtseins3 erscheint als ein status quo, in dem sämtliche zur Disposition stehenden Entscheidungen im Bereich dessen, was seit Hegel mit objektivem Geist benannt wird, bereits entschieden sind. D.h. die Entwicklung, die eine Kultur hin zur Zivilisation durchlaufen hat - das sind die in dieser Genese gefallenen und zur Institution bzw. Norm geronnenen Entscheidungen in Kirche, Kunst, Wissenschaft, Sitte und Wirtschaft - suspendieren die so entstandene Zivilisation davon, sich weiterhin inhaltlich progressiv auszufalten. Ist dieser beinahe paradox anmutende Prozeß beendet - paradox insofern, da eine Zivilisation allein in statu nascendi Perspektive und Möglichkeit für das historische Individuum bereit hält, da im Erreichen des Ziels, in der Vollendung des Zustands, der gerade durch diese Vollendung zur Tatenlosigkeit verdammte Mensch dem Modus einer historischer Apathie verfällt - so tritt das handelnde Subjekt zwangsläufig in Distanz zu der von Ihm herbeigeführten Entwicklungsstufe. Die begrenzten seelischen Möglichkeiten, die der historische Mensch auf eine jeweiligen Kulturstufe hat, sind jetzt erschöpft und das Individuum besitzt keine spirituelle Reserven mehr, die es ihm erlauben, sich mit dem Fortgang der gegenwärtigen Geschichte zu identifizieren."4 Zivilisation als Stadium der gefällten Entscheidung erscheint somit als unausweichlich angestrebte, schließlich vollendete Lähmung historischer Umtriebigkeit des Menschen: Man produziert nichts neues mehr [...] Man hat den eigenen objektiven Geist im negativsten Sinn des Wortes aufgegeben"5 Man hat ihn aufgegeben und ist ihm gegenüber in eine ins Private zurückgezogene Indifferenz getreten.6

Dieser Abtritt des Menschen aus seiner eigenen Geschichte ist jedoch auf dem beschriebenen Hintergrund ein zwangsläufiger. Der subjektive Wille läßt sich nämlich nur solange an die empirische Realität des Daseins anbinden, als er realitätsorientierte Entscheidungen treffen und dann das Entschiedene in die objektive Ebene der physischen Existenz projizieren kann. Die Tragik der Zivilisation aber ist, daß alle relevanten Entscheidungen bereits getroffen sind."7

Als Konsequenz hieraus stellt sich nun das eingangs angeführte gedoppelte Verhältnis des Subjekts zu dem von ihm herausgebildeten historischen Zustand ein. Einerseits findet sich die Tendenz, das einmal erreichte Niveau in der bestehenden Form zu zementieren, man hält an dem einmal er-reichten existentiellen Zustand mit verzweifelter Zähigkeit fest."8 Andererseits ist dieses Festhalten nur leere, nicht von echtem Engagement getragene Perpetuierung eines als fremd und äußerlich erlebten Zustandes. Es ist also weder der Wille noch die Kraft vorhanden, sich noch länger mit ihm zu identifizieren und ihn in solchen immer erneuten Identifikationsprozessen weiterzutreiben."9

Historische Entwicklung und eigentlich Historie selbst, so sie als fortlaufender Prozeß thematischer und für die Sozietät bedeutsamer Entscheidungen betrachtet wird, kommt zum Erliegen, wenn das Potential der Realisierungsmöglichkeiten des spezifischen Seelentums"10 der jeweiligen Kultur erschöpft ist. Ist dieser Punkt mit der Zivilisation einmal erreicht, dann hat der produktive Wille kein materiales Ziel mehr, in dem er sich erfüllen kann. Anstatt auf neue unorthodoxe und häretische Inhalte gerichtet zu sein, stößt er ins Leere und wird nihilistisch. Da aber das Bewußtsein die nihilistische11 Haltung nicht erträgt, schlägt es partiell um und entwickelt reaktionär-konservative Tendenzen, geleitet von dem verzweifelten Bemühen die alten Werte zu bewahren."12

War das bisher gesagte im Wesentlichen eine geschichtsphilosophische Betrachtung, so löst sich Günther von der Spenglerschen Argumentationslinie, wenn er das Problem darüberhinaus einer strukturtheoretischen Durchsicht unterzieht. Spengler hatte seine Klassifikation von primitiver Kultur bzw. Frühzeit und ausgebildeter Kultur anhand der dichotomischen Zuordnung von Natur- und Kulturgeschichte vollzogen, wonach etwa eine Schlacht zwischen zwei Negerstämmen lediglich ein Schauspiel der lebendigen Natur"13, der historische Mensch" hingegen erst der  Mensch einer in Vollendung begriffenen Kultur" sei14, so unterscheidet Günther diese beiden Entwicklungsstufen auf Grund der ihnen inhärenten Divergenzen, welche sich auf der Ebene der jeweiligen Bewußtseinsverfassungen erkennen lassen.

Das primitive Bewußtsein, das mit solchen Termini wie Magie, Animismus, Totem und Tabu ungefähr bezeichnet werden kann"15, zeichnet sich dadurch aus, daß es sich noch vollständig als Teil seiner Außenwelt begreift, daß die Subjekt-Objekt-Trennung noch in einer mystischen Einheit von Selbst und Welt aufgehoben ist, womit das Ich seine eigenen Wesenskategorien nur soweit verstehen kann, als sie sich ihm direkt aus der objektiven Gegenstandswelt ins Bewußtsein zurückreflektieren. Seine eigenen seelischen Bestimmungen erscheinen ihm deshalb als Götter, Geister und Gespenster.16 Gemäß dieser Einheit bezeichnet Günther diese Daseinweise als Geschichte erster Stufe oder einwertige Bewußtseinstufe. Der Übertritt zum zweiwertigen Bewußtsein bzw. zur Geschichte zweiter Ordnung vollzieht sich demgemäß anhand der in den regionalen Hochkulturen auftretenden Loslösung des Ichs von seiner Umwelt. Was dem Seelentum des Menschen in den regionalen Hochkulture