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2.1 Nietzsche als Vorbote der Nicht-Identität


Wenn hier nun von Dezentrierung die Rede ist, so darf dies nicht geschehen, ohne auf den Ahnherrn dieser Dethronisierung des menschlichen Bewußtseins"1 einzugehen: Nietzsche.

Rückt nun Nietzsche in den Horizont der Betrachtung, so sind die Verbindungen implizit schon in dem bis hierhin Gesagten angesprochen. Auf das Allgemeinste betrachtet läßt sich feststellen, daß das Werk Nietzsches von jener dunkel-machtvollen Fin-de-siecle-Stimmung durchzogen ist, die Günther so nachhaltig an der Lektüre von Karl Heim und insbesondere Oswald Spengler beeindruckt hatte.2 Was hiermit gemeint ist, läßt sich fassen als jenes Gefühl eines radikalen Abbruchs, als die Markierung einer endgültigen Grenze, dies zumindest im Falle Heims und Spenglers. Denn zieht mit Nietzsche zwar das Ende der Metaphysik herauf, so entsteht mit der großen Vision des Übermenschen im gleichen Moment eine neue geschichtsgründende Konzeption jenseits der Schranke eines dem Partikulären verhafteten Denkens. Es ist dies der positive Gegenentwurf, der sich als Phönix aus der Asche der als Wille zur Macht demaskierten Philosophie erhebt, welche in ihrem Anspruch die metaphysische Essenz hinter den Dingen erkennen zu können immer nur ein Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen"3 ist. Dieser positive Gegenentwurf nun liest sich in frapierender Analogie zu der von Günther projektierten und mithilfe der transklassischen Maschine zu realisierenden Aufgabe einer transmundanen, nicht mehr an das historische Apriori der regionalen Hochkultur gebundenen Konzeption von Subjektivität und gesellschaftlicher Formation. So postuliert Nietzsche: Die Zeit für kleine Politik ist vorbei: schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft, - den Zwang zur großen Politik."4 Diese Aufgabe bewerkstelligen zu können bedarf es einer neuen über Europa herrschenden Kaste"5, womit sich zwar zeigt, daß Nietzsche dem Denken in eurozentristischen Kategorien noch nicht entwachsen ist, womit andererseits jedoch der Anspruch formuliert ist, den Spengler etwa als nicht mehr einlösbar erkennt, der für Günther aber qua Technik dem Menschen seine historische Zukunft sichert. Denn dieser von Nietzsche postulierten Kaste obliegt es, ihrer Zeit einen Willen aufzuoktruieren, der sich über Jahrtausende hin Ziele setzen könnte".6

Begnügen sich Spengler und Heim damit, den Abschluß der Geschichte bzw. der Philosophie anzuzeigen, so weisen Nietzsche und Günther der von ihnen als Endstadium markierten Situation einen Ausweg auf. Solcherart wird die von ihnen konstatierte Grenze nicht zur Endstation, sondern vielmehr zur Schnittstelle, an der altes in neues umschlagen muß. Im Falle Günthers ließe sich durchaus von einer Transformation der Philosophie reden, insofern die Tradition ja nicht zur Gänze eliminiert werden soll, dies auch garnicht möglich ist7, sondern vielmehr in ihren spezifischen Begrenztheiten erkannt und durch eine Erweiterung ihrer selbst mit ihren eigenen Mitteln entgrenzt werden soll. Die Perspektive auf eine Fortdauer in der Geschichte aber setzt einen solchen Transformationsprozeß voraus. Dieser Prozeß, der sich als eine kathartische Selbstbescheidung und redliche Verortung des Menschen klassifizieren läßt, führt in der Radikalität seiner Konsequenz in die Nähe der Nietzscheschen Übermenschkonzeption, insofern hierin nicht das chauvinistische Herrschaftsideal eines dumpfen Genfetischismus' gesehen wird. Setzt sich vielmehr die Einsicht durch, daß damit eine Konstitution formuliert wird, die sich erst aufgrund einer schmerzvollen Selbstentmachtung vollzieht, insofern dem Subjekt der Zugang zur Wahrheit, resp. diese selbst als illusionär entlarvt wird, so liefert der Übermensch das Bild dessen, der dem Menschen - und insbesondere dem Philosophen - darin über" ist, als er sich schonungslos seine eigene Beschränktheit einzugestehen vermag.

Diese Beschränktheit erkennt Günther aber in dem zu unrecht erhobenen Absolutheitsanspruch der klassischen Logik, die für ihn immer nur partielle Gültigkeit besitzt. Ist diese Logik jedoch das basale Muster individueller Reflexion, so muß die Einsicht in ihre Begrenzung auch eine neue Vermessung des Subjekts bedeuten. Wer hier nicht sieht, daß sich damit eine neue historische Stufe der Distribution der Subjektivität ankündigt, dem ist nicht zu helfen. In der Idee der Kybernetik ist das Prinzip der bisherigen Geschichte durchbrochen, daß nur in einem menschlichen Körper hausende selbstreflexive Subjektivität in dem geschichtlichen Raum des jeweiligen historischen Ichs beheimatet ist."8 Dies ist das eigentliche Skandalon, und wenn Nietzsche dem Menschen die Einsicht abringt, daß er nie und nimmer aus dem Hinterhof seines Interpretierens herausspringen und der Wahrheit ansichtig werden könne, dann fordert Günther ihm die schockierende Anerkenntnis ab, daß er das Universum nicht als einziges Reflexionszentrum bewohnt. Dies zu akzeptieren aber erfordert eine Souveränität und Gelassenheit, die die Zeitgenossen Nietzsches wie Günthers nicht in der Lage sind zu erbringen, weswegen beide eine neuen Typus des Menschen propagieren. Übermensch heißt er bei dem einen, der andere erblickt ihn in dem Typus, der sich radikal vom historischen Apriori der abendländischen Metaphysik verabschiedet hat. Einen solchen Abschied aber hat die Kybernetik vollzogen, wie sie im amerikanischen Raum Gestalt angenommen hat, und die für Günther nur Ausdruck eines spezifisch neuen, eines typisch amerikanischen Denkens ist, das allein auf dem Boden einer von Isolation und Pioniergeist geprägten Kultur ermöglicht wurde.9 So wird für Günther der Amerikaner zum Synonym jener Denkhaltung, die sich in völliger Offenheit und von jeglicher metaphysischer Erblast befreit, der neuen, und nun überhaupt erst erkannten Aufgabe widmen kann, ohne von der abendländischen Angst eines Selbstverlustes gebremst zu werden.10 Der Amerikaner fühlt dunkel, daß alle bisherige Weltgeschichte im strengen Sinn eine Angelegenheit der östlichen Hemisphäre war und ihn im tiefsten Grunde nichts angeht [...] An dieser Stelle stoßen wir auf die letzten weltanschaulichen Motive, die allen amerikanischen kybernetischen Theorien ihre innere Triebkraft geben. Der neue Mensch der westlichen Hemisphäre identifiziert sich nicht mehr mit den reinen Formen des klassischen Denkens, die in einer langen und mühevollen Seelengeschichte des Menschen in der östlichen Hemisphäre entwickelt worden sind. Er sucht diese Formen dadurch von sich abzustoßen und sie innerlich zu überwinden, daß er versucht, sie aus seinem Seelenleben zu entlassen und in die Maschine, den denkenden Robot, zu verbannen."11 Damit aber ist die Konzeption des neuen Menschen noch nicht abgeschlossen. Die Anerkenntnis der eigenen, grundsätzlichen Reproduzierbarkeit im Mechanismus erfordert nicht nur ein neues Denken, dieser Emanationsprozeß zieht vielmehr eine ontologische Transformation des Menschen nach sich. Denn wenn das Bild des Menschen, die kybernetische Maschine ihren Schöpfer anspricht, dann ist es eben nicht mehr der Mensch, der sich im Mechanismus anspricht, und ebensowenig ist es der alte Mensch, der von diesem angesprochen wird. Eine solche Implementierung von Subjektivität vollzieht rekursiv dann die Neubestimmung ihres Schöpfers, insofern er sich in Differenz zu dem von ihm geschaffenen Bild setzten muß. Ist dies aber ein Bild nach seinem Bilde, so stellt sich an ihn die Forderung, sich neu zu bestimmen. Denn: Wir haben unsere Identität gewechselt."12

Es zeigt sich also eine deutliche Parallele, mit der sich bei Nietzsche wie bei Günther eine radikale Abkehr von bisherigen Paradigmen verbindet mit der gleichzeitigen auf Zukunft hin ausgerichteten Perspektive einer noch zu formulierenden und zu bewältigenden Aufgabe. Wem es an dieser Stelle zu gewagt erscheint, Nietzsches Text aus seinem thematischen Umfeld zu extrahieren, um ihn als formelles Gerüst neben Günther aufzurichten, dem sei mit Derrida gesagt: Die Zukunft des Textes Nietzsches ist nicht abgeschlossen."13

1G. Günther: Beiträge I, S.XII
2Vgl. L.J. Pongratz (Hg): Philosophie in Selbstdarstellungen. Bd. II, mit Beiträgen von G. Günther et al., Hamburg 1975, S.1 - 74, hier S.3-7
3Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. in: Werke 3, S.336
4F. Nietzsche: KSA V,140
5ebd.
6ebd.
7Die Basis auf der menschliches Denken möglich ist, wird von Günther grundsätzlich in der klassischen Logik gesehen. Da wir selbstverständlich unseren Bewußtseinsmechanismus nicht aufgeben können, sind wir auch unter keinen Umständen in der Lage, die klassische Identitätslogik, die denselben dirigiert, zum Alteisen zu werfen. Sie muß und sie wird in alle Ewigkeit die fundamentale Basis bilden, auf der sich das theoretische Subjekt mit seinen Seinserlebnissen identifitiert."(G. Günther: Beiträge I, S.124) Jedoch gilt es zu erkennen, daß damit nicht alle Bereiche möglicher Reflexion abgedeckt sind, es also Dimensionen gibt, in denen mit der von Plato und Aristoteles konzipierten klassischen Logik [...] nichts anzufangen ist." (G. Günther: Beiträge I, S.129)
8G. Günther: Beiträge III, S.56
9vgl. L.J. Pongratz (Hg): Philosophie in Selbstdarstellungen. S.37
10vgl. G. Günther: Beiträge III, S.227
11G. Günther: Beiträge I, S.113f. Hervorhebung von J.C.
12G. Günther: Beiträge III, S.54. Daß und wie sehr die Schwierigkeiten mit einem solchen neuen und demzufolge nicht mehr technikfeindlichen Denken an die Tradition der abendländischen Metaphysik gebunden sind, wird deutlich, wenn das Problem aus asiatischer Sicht in den Blick tritt. An unserer Anhänglichkeit an das Substanz- und Subjektsein erfahren wir sein Wesen [das, des Ge-stells] konkret, das der Technik die Möglichkeit ihres Ereignisses entzieht und statt dessen an Mensch und Sein in der Weise des Gestells Rache nimmt. [...] Es liegt die Vermutung nahe, daß dort, wo diese Anhänglichkeit und das Ressentiment nicht so stark geprägt sind, auch die Differenz zwischen Technik und Ereignis dementsprechend entschärft ist. In diesem Sinne nimmt die Technik-Rezeption in Japan eine Sonderstellung ein. (Y. Kamata: Technik als Vorspiel des Er-eignisses? Technik im Westen und Osten. PhJb.92, 1985, S.125-129, hier S.128) Interessant an dieser Stelle ist, wie Heidegger ebenfalls den Nexus `Technik - Amerika - Metaphysik' deutlich im Auge hat, jedoch die aus Übersee anbrandende Technik gerade nicht als qualitativ neue ansieht, sondern nur als das schlechte Feedback alteuropäischer Verfehlungen. Im Zusammenhang eines Rilke-Briefes (13.11.1925), in dem dieser sich über die radikale Andersheit durchaus profaner Dinge allein aufgrund ihrer Situierung auf amerikanischem Boden, d.h. als amerikanische Dinge, ausläßt, bemerkt Heidegger: Aber dieses Amerikanische ist bereits nur der gesammelte Rückstoß des gewillten neuzeitlichen Wesens des Europäischen auf ein Europa, dem freilich in der Vollendung der Metaphysik durch Nietzsche wenigstens Bereiche der wesentlichen Fragwürdigkeit einer Welt vorgedacht sind, in der das Sein als der Wille zum Willen zu herrschen beginnt. Nicht das Amerikanische erst umdroht uns Heutige, sondern das unerfahrene Wesen der Technik umdrohte schon unsere Vorväter und ihre Dinge." (Holzwege: Wozu Dichter?, Frankfurt 41963, S.268f)
13J. Derrida: Nietzsches Otobiographie oder Politik des Eigennamens. Die Lehre Nietzsches. Fugen. Deutsch-   Französisches Jahrbuch für Text-Analytik. Olten 1980, S.64-98, hier S.91


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