Joachim Castella

I.M.A.G.E.
Institut für Medienanalyse und Gestalterkennung

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Die Monographien Gotthard Günthers.

In: Realitäten und Rationalitäten. Hrsg. von Rudolf Kaehr, Axel Ziemke. Berlin: Duncker & Humblot, 1996, S. 348-52. (= Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Bd. 6) © beim Autor.

Nicht nur die Geschichte der Philosophie kennt jene Protagonisten, die mit einem neudeutschen Modewort wohl als Querdenker bezeichnet werden, doch besitzt die philosophische Tradition den besonderen Vorteil, die Verquerungen dieser Denker bestens zu dokumentieren. Der philosophische Diskurs ist lange schon ein literaler, und vertextet ist solcherart das Denken Gotthard Günthers, dessen philosophischer Ansatz das Attribut der Orthogonalität nicht nur verdient, bei dem das Ausgreifen auf das Abseitige thematisch und methodologisch das Movens ist. Öffentlich zu Papier gebracht also ist das über die verstreuten Aufsätze hinausgehende Werk in insgesamt sechs Bänden; drei Monographien und eine dreibändige Aufsatzsammlung.

Die Verquerungen seines Œvres sind dabei so vielschichtig wie das Werk selbst, denn Günther vollzieht - ebenso ein vielbeschworenes Wort - einen Paradigmenwechsel, wenn darunter - einmal ohne Th. Kuhn - die Aufgabe gesicherter und kodifizierter Denkstrukturen verstanden werden darf. Querverbindungen zu ziehen, von der Sukzession der Linie in das Nebeneinander der Fläche zu dringen, kann dabei als systematisches und methodisches Prinzip verstanden werden, denn es ist das Disparate, das Günther nebeneinander in Konsistenz zu denken sich bemüht.

Solches ist als Polykontexturalitätstheorie bekannt geworden, i.e. der Entwurf, eine Logik, eine Arithmetik, eine Zahlentheorie, einen Formbegriff und eine philosophische Fundierung/Interpretation dafür zu liefern, daß die oppositionelle Dualität von Geltung und Ungültigkeit (A oder nicht-A) in die dialektale Gleich-Gültigkeit des sich Negierenden überführt werden kann, womit das Gleiche sich als das Andere erfassen läßt, ohne dabei seine Identität einzubüßen. Das Gleiche als das Andere, Identität im Selbstwiderspruch - ein philosophisch Versierter wird sogleich an die Dialektik Hegels erinnert, und nicht von ungefähr, denn Günther kommt von Hegel her. In den Grundzügen einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik, der ersten, aus der Dissertation hervorgegangenen Monographie von 1933, setzt er sich grundlegend und für die Hegel-Exegese durchaus heterodox mit dem preußischen Staatsdenker auseinander.

Hegel - so das Argument - habe den wesentlichen Schritt über die Aristotelisch-Platonische Verfassung des Idealismus hinaus getan, indem er das Denken aus der Hoheit des Subjekts entlassen habe. Dies sei der entscheidende Schritt, den Günther als die "neue Theorie des Denkens" erkennt, und der Hegel vom (Kantischen) Rationalismus grundlegend unterscheide.

Folgt man der von Günther vorgeschlagenen Interpretation, dann zeichnet sich in der Tat eine erstaunliche Wende ab, mit der das Subjekt im Akt der Selbstreflexion sich zu dethronisieren anschickt.

Während die Philosophie bis zur Ankunft des Deutschen Idealismus in der urphänomenalen Dichotomie von Sein und Denken (des Seins), Stoff und Form, Subjekt und Objekt verfangen sei, habe mit Kant, Fichte, Hegel und Schelling eine thematische Neuorientierung stattgefunden: Das Denken des Denkens. Dem Deutschen Idealismus gehöre das Verdienst, daß das selbstbezügliche Denken in eine andere thematische Dimension stoße, als das Denken des externen Objektes. Profan gesagt: Das Denken des Steins sei etwas anderes als das Denken des Denkens des Steins; in philosophischer Terminologie: die transzendentale Selbstbezüglichkeit impliziert eine formale Neuorientierung der Reflexion.

Soweit stimmt auch die Schulphilosophie zu, auch nach dem common-sense transponiert Kant mit der kritizistischen (Kopernikanischen) Wende die Welt in das Innen des Subjekts, Raum und Zeit sind Anschauungsformen des Verstandes, und die Urbild-Abbild-Dichotomie wiederholt sich nun entlang einer Grenze im Bewußtsein. Damit ist ein erster Schritt hinaus aus der absoluten Dualität von Ding und Denken, Sein und Bewußtsein getan, aber der Preis liegt in der Unzugänglichkeit des Dinges an sich, wie in der Hypostase des transzendentalen Subjekts, die Kant braucht, um dem Denken der Individuuen ihre intersubjektive Verständigung und "Gleichschaltung" zu garantieren.

Hegel, so Günther, komme nun das besondere Verdienst zu, eine strukturtheoretische Perspektive des Selbstbewußtseins gegründet zu haben, das als zirkulare Reflexion der Reflexion (Negation der Negation) zum Begriff seiner selbst komme. Hegel verwerfe das Subjekt als Zentrum seiner Philosophie, der Geist denke sich vielmehr selbst, das Absolute gehe durch die Geschichte hindurch in Stadien zunehmender Vervollkommnung. Nicht der Mensch, das (Selbst-)Bewußtsein sei das Zentrum, das Subjekt sei nur insofern von besonderem Interesse, als der Geist sich in ihm in einer Reflexion höherer Komplexität emaniere, als etwa in den Formen von Natur und Kultur. Das Wesentliche sei so die Reflexion, ein Strukturprozeß von universaler Verfaßtheit, der sich hier und da (im Subjekt) auf sich selbst wenden könne. Mit Hegel vollziehe sich eine nicht zu überschätzende Wende, die die Anthropozentrik in ihren Grundfesten erschüttere, wenn nicht mehr das Selbstbewußtsein der Grund des Denkens, sondern das die Reflexion der Grund des Bewußtsein sei.

Folgt man der Güntherschen Lesart, dann setzt mit Hegel ein vollkommen neues Verständnis von Denken und Geist ein, das - in anderer Terminologie - sowohl das Bewußtsein als ein strukturtheoretisches Phänomen begreift, wie ebenso und als Bedingung dafür, einen selbstorganisationstheoretischen Begriff des Geistes impliziert. Der Weltgeist weht durch die Geschichte, kommt zu sich selbst in den Emanationen (Organisationsformen) von Religion, Staat, Kunst und Philosophie. Der Geist ist universales Strukturprinzip, weswegen Günther die Frage stellt, war