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Brief_6: Gödel-Ausgabe: (Goedel_GG_006.doc)
Günther to Gödel

3407 Montrose Ave.
Richmond 22, Va.
19. Juni 1955


Sehr verehrter Herr Professor Gödel:

Es scheint mir ziemlich lange her seit wir miteinander korrespondiert haben. Inzwischen hat sich manches ereignet. Die Universität Hamburg hat mich eingeladen im kommenden Wintersemester als Gastprofessor dort in der Philosophischen Fakultät zu lesen. Im Oktober werde ich hinüber fahren. Als Hauptkolleg habe ich "Metaphysik der Geschichte" gewählt. Daneben werde ich ein Seminar für Anfänger über moderne geschichtsphilosophische Theorien halten, und ein Seminar für Fortgeschrittene über transzendentale Logik.

Das aber nur nebenbei. Der Zweck meines Briefes ist ein anderer. Ich habe seit unserer letzten Korrespondenz einen Gedankengang ausgearbeitet, den ich Ihnen gern zur Kritik unterbreiten möchte.

Sie stimmten mir in Ihrem letzten Briefe bei, dass die modernen Bemühungen der mathematischen Logik im Wesentlichen eine Reflexion auf das Denken selbst darstellen. Wenn wir darin übereinstimmen, so sollten wir uns auch über das Folgende verständigen können.

Die obige Einsicht zwingt uns zwischen zwei inversen Typen von Reflexion zu unterscheiden: 1) die Reflexion auf den bona fide Gegenstand, der als etwas a limine vom Denken Unabhängiges gedacht wird, und 2) die Reflexion auf das Reflektieren in 1).

Es ist unvermeidlich, dass diesen beiden Reflexionstypen zwei grundsätzlich verschiedene Konzeptionen des Begriffes <logischer Gegenstand> entsprechen müssen. Diese Unterscheidung wird aber in der heutigen Logik noch nicht durchgeführt.

Ich will zeigen, was ich meine. Die beiden logischen Gegenstände müssen verschiedenen Identitätscharakter haben. In der Terminologie der älteren logischen Tradition:[1] der Gegenstand der Reflexion 1) hat Seinsidentität; der Gegenstand der Reflexion 2) aber hat Reflexionsidentität. Der Unterschied findet sich, meines Wissens nach, zum ersten Mal bei Hegel formuliert. Im Anschluss daran haben Sigwart und Benno Erdmann dann analysiert, was Seinsidentität logisch eigentlich bedeutet. Ihr Resultat: Mit sich selbstidentisch sein heißt für den Gegenstand, dass derselbe durch den Denkakt, der sich mit ihm beschäftigt, nicht verändert wird. Seine (logischen) Eigenschaften bleiben dieselben, gleichgültig, ob er gedacht oder nicht gedacht wird. æ
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