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2.4 Freiheit und Notwendigkeit als unterschiedliche Komplexitätsgraduierung


Es zeigt sich, daß das System mit seiner Umgebung auf zwei inverse Weisen in Verbindung tritt. Zum einen können die Einflüsse und Determinanten der Umwelt von solcher Mächtigkeit sein, daß dem System einzig eine reaktive (das heißt aber keineswegs passive) Rolle zufällt, zum anderen kann die Struktur der Umwelt hinsichtlich der Belange des Systems von solcher Offenheit und Indifferenz sein, daß die Einflußnahme den umgekehrten Weg nimmt, d.h. das Individuum aktiv in die Umwelt eingreift. Ist das System im ersten Fall ganz auf das Registrieren der einflutenden Umweltdaten beschränkt, so bedeutet dies nichts anderes, als daß die wechselnden Zustände des Subjekts erkennenden (kognitiven) Charakter annehmen und damit in Termini der theoretischen Vernunft beschreibbar werden, deren Regeln von der objektiven Existenz der Welt wie sie ist diktiert werden."1 Im zweiten Fall, in dem dem System der gegenüber der Umwelt dominante Part zufällt, ist für das System somit ein Freiraum geschaffen, in dem sich die Subjektivität eines lebenden Organismus als ein Prozeß von Entscheidungsakten durchsetzen kann."2 Allerdings, und das ist von grundsätzlicher Bedeutung, ist diese Handlungsaktivität bei neutraler Umwelt nicht als ergreif- oder verwerfbare Alternative in das Belieben des Systems gestellt, sondern es ist als lebendes System ein solches System, daß seine innere Organisation es zwingt, in einem Akt der Selbstbestimmung unbedingt auf die Neutralität seiner Umgebung zu reagieren."3

Auch wenn eine solche Passage, in der vom Zwang zur Selbstbestimmung die Rede ist, geneigt macht, sie durch die schwarzumrahmte Brille des Existentialisten zu lesen, sollte die terminologische Affinität nicht darüber hinweg täuschen, daß Günther sich hier in systemtheoretischen Paradigmen bewegt.4 Dies wird deutlich, wenn näher auf den Freiheitsbegriff eingegangen wird, der ja implizit in der Situation angelegt ist, in der das System, bei ihm gegenüber indifferenter Umgebung, sich aktiv auf diese hin verhält. Günther hebt deutlich hervor, daß Freiheit nicht wie traditionell verstanden als Mangel an Determination zu sehen sei, sondern vielmehr als deren positive Erweiterung interpretiert werden müsse. Darüberhinaus, sei Freiheit - in Anlehnung an die Theorie der Willensfreiheit A. Gehlens - niemals eine Sache der Stofflichkeit von Ereignissen, sondern eine ihrer strukturellen Form."5 Damit aber besteht kein Grund mehr zwischen objektivem Ereignis und spontaner Handlung die Demarkationslinie von Kausalität und Freiheit aufrechtzuerhalten, insofern beide, sowohl das irreflexive wie das reflexive Ereignis, ein und derselben Kausalkette entspringen und folglich gleichermaßen als derterminiert anzusehen sind.

Daß dennoch zwischen Ereignis und Handlung unterschieden wird und unterschieden werden muß, findet seinen Grund nun nicht mehr in der Differenz von Freiheit und Notwendigkeit, das adäquate Differenzkriterium liefert vielmehr die strukturelle Form, in welcher sich objektives Ereignis und Willens-Ereignis darstellen. Ein Willensakt eines Subjektes beinhaltet eine viel höhere strukturelle Komplexität als wir sie in der physischen irreflexiven Kausalität im Objektbereich beobachten [...] Was den Mythos des gänzlich undeterminierten Willens erzeugt hat, ist die Tatsache, daß der Übergang der Kausalität vom Objekt zum Mechanismus der Subjektivität einen solchen Zuwachs an strukturellem Reichtum zum Kausalnexus bringt, das es so scheint, als ob eine gänzlich neue Kraft auftauchte, die sich von den Determinierungsketten, die alle Objekte miteinander verbindet, vollkommen unterscheidet."6

Unter dem Aspekt, daß die Realität als das Zusammenspiel von reflexiver und irreflexiver Kausalität voll determiniert ist, läßt sich Kausalität der einen oder anderen Form materialiter zwar nicht unterscheiden, jedoch läßt sich erkennen, "daß die Kausalität der objektiven Kontextur des Universums eine Rückkopplungsschleife durch die Subjektivität hindurch zurück in die Umwelt bildet"7, welche sie qualitativ, d.h. hinsichtlich ihres Komplexitätsgrades transformiert. Terminologisch faßt Günther jene Kausalität, die die Rückkopplung durch ein Willenssystem durchlaufen hat, als "Bild-induzierte"8 Kausalität, da Handlung und Entscheidung ein "Bild der Welt"9 voraussetzen, während die irreflexive Kausalität der Umgebung demgemäß bildlose Kausalität heißt.10

Ist also die metaphysische Rede von Freiheit und Notwendigkeit destruiert, insofern Freiheit nicht mehr als Mangel an Determination gesehen wird und Notwendigkeit nicht allein auf den Bereich der irreflexiven Physis beschränkt ist, so findet ihre strukturtheoretische Substitution auch Eingang in die Beschreibung der Beziehung des Subjekts zu seiner Umwelt. Einflußnahme der Umwelt auf das Subjekt besteht demnach immer dann, wenn diese eine höhere strukturelle Komplexität entfaltet als das System auf das sie einwirkt."11 Und umgekehrt ist das Subjekt in Handlungszwang versetzt, wenn es sich in Situationen findet, in denen die Beziehung eines lebenden Systems zu seiner Umwelt gerade dadurch charakterisiert wird, daß die Umwelt - soweit sie das Subjekt betrifft - gegenüber der Subjektivität eine niedrigere strukturelle Komplexität entfaltet."12 Innerhalb dieser beiden gegenläufigen Beziehungen, unter denen sich Subjekt und Umgebung begegnen, findet sich also eine klar bestimmbare Hierarchie der gegenseitigen Einflußnahme, es konstituiert sich ein Ordnungsverhältnis, das vom jeweiligen Komplexitätsgrad der beiden Entitäten bestimmt ist. In der Terminologie Günthers läßt sich somit von zwei inversen hierarchischen Ordnungsrelationen"13 sprechen, wobei einmal die Umgebung im anderen Fall das Subjekt die Oberhand behält. Reflexionstheoretisch ausgedrückt begegnet uns Subjektivität im ersten Fall als kognitives System. Im anderen Fall manifestiert sie sich als Wille."14 Denn wenn die Komplexität der Umgebung höher ist, kann das System allein kontemplativ, d.h. erkennend die Welt abbilden, im anderen Fall greift es aktiv in die Umgebung ein, d.h. es tritt im Willensereignis handelnd der Welt entgegen.

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