Joachim Castella
I.M.A.G.E.
Institut für Medienanalyse und Gestalterkennung
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Scheidekunst [1]

Gedanken über zeitgenössische Schöpfungsmythologeme

In: Gotthard Günther. Technik, Logik, Technologie. Hrsg. v. Ernst Kotzmann. München u. Wien: Profil, 1994, S. 55-79.

1. Vom Anfang

"Draw a distinction" [2] - Mit diesen schlichten Worten hebt einer der bestechensten Kalküle der Logik an, der ganz im Gegensatz zur Simplicität dieser Eröffnungssentenz versucht, nichts weniger als eine allgemeine Theorie der Unterscheidung zu sein. Fragt man nach der Bedeutung eines solchen Kalküls, so mag einer der Fortführer des Spencer-Brown-Kalküls darüber Auskunft geben, wenn er in der formalen Beherrschbarkeit der Unterscheidung seinerseits nichts weniger sieht als "a nondualistic attempt to foundations for mathematics and description in general". [3] Logische Fundierung der Mathematik und Beschreibung insgesamt, die neben der Theorie der Unterscheidung auch und gerade ihre Formalisierung und Operationalisierung sein will, ist somit nichts weniger als das Ziel derer, die sich in den umtriebigen Disziplinen der Künstlichen-Intelligenz aufgemacht haben, dem Nietzsche-Wort eine höchst ambivalente Versicherung zu geben. "Gott ist tot!" - doch der Erdenmensch kann nicht umhin, aus profangeschichtlicher Routine heraus sein "Es lebe Gott!" zu ergänzen. Und daß die Akklamation für den neuen Gott laut und unüberhörbar ausfällt, darf nicht wundern, denn der neue König der Schöpfung jubelt hier sich selber zu. Die Schöpferkraft, die einst in dunklen Naturphänomenen zu entschlüsseln sich der homo sapiens sapiens versuchte, diese Schöpferkraft soll nun an ihn übergegangen sein mit der schlichten Aufforderung "draw a distinction."

Hier dann steht das Jahwe-Wort vor seiner endgültigen Erfüllung, "Siehe, der Mensch ist geworden wie einer von uns, so daß er Gutes und Böses erkennt." [4] Der Mensch, der vom Baum der Unterscheidung gegessen hat, muß aus dem Paradies vertrieben werden, daß er nicht unsterblich werde. Gottebenbildlichkeit hat er sich erschlichen, Gottgleichheit soll ihm versagt bleiben, doch gerade dieser Mangel, das stete Wissen um die paradoxe Verfaßtheit seines sich selbst verzehrenden Lebens wird ihm zum größten Impetus, die letzten Hoheitsgebiete des alten Gottes zu erobern. Unsterblichkeit, wenn nicht von der begrenzten Physis eigener Leiblichkeit zu erwarten, soll mit der Wiederholung des Subjektes im technischen Konstrukt zumindest approximativ erreicht werden. Und die Schöpferkraft, dies, also sich selbst zu bilden, steht im 0-1-Code als opto-elektronisch vermitteltes Genom bereit.

"Draw a distinction." darf, richtig verstanden, zu diesem Zweck durchaus als urphänomenaler Akt der Autogenese gelten, wenn richtiges Verstehen hier ein eingehendes Rückversichern der dieser unkomplizierten Aufforderung impliziten Präsuppositionen meint. So setzt die Präambel des Spencer-Brown-Kalküls zunächst die Existenz eines homogenen Raumes sowie die eines Agenten voraus, der diesen Raum mittels der ersten Distinktion in zwei Hälften unterteilt. Doch unterminiert schon die zweite Forderung des Kalküls - "Call it the first distinction." [5] - sich selber, drängt sich an dieser Stelle die Frage auf, wer diese erste Unterscheidung denn vollzieht. Weit davon entfernt einer Ursprungs-Philosophie das Wort zu reden, bedarf der calculus of indication (CI) doch einer Erklärung/Ergänzung seines eigenen (nicht reflektierten) Aprioris.

Denn wenn Raum und Agent als unhinterfragte Voraussetzungen der Unterscheidung gelten, dann können sie das sinnvoll nur auf der Basis eines externen Beobachters sein, der von außen den Agenten im Akt der Unterscheidung gegenüber dem Raum identifiziert, d.h. ihn unterscheidet. Damit jedoch wäre die erste Unterscheidung nicht nur nicht die erste Unterscheidung, vielmehr wäre das Problem der Initialdistinktion um eine Stufe nach hinten verschoben, erginge nun an den externen Beobachter erneut die Frage, auf welchem Weg er diese Unterscheidung vollzieht, die ihn selber zu einem Agenten macht.

Um dem drohenden infiniten Regreß zu entkommen, mag das indifferente Verhältnis von Agent und Unterscheidung eine klärende Einordnung erfahren, die sich der Theorie komplexer lebender Systeme entlehnt. [6] Grundvoraussetzung für ein System, das nicht in der Homogenität des Raumes aufgehen will, ist die Selbstsetzung als Akt der primären Unterscheidung, ist in der Umkehrung Spinozas die Negation, die das System als das Andere gegenüber der Umgebung erscheinen läßt. "Die Lebendigkeit eines lebenden Systems bestimmt sich dadurch, daß es simultan komplexe Unterscheidungen trifft und sich zugleich zu diesen verhält. [...] Die Unterscheidung zwischen sich selbst als Unterscheidendem zwischen sich und der Umwelt und sich selbst als Unterscheidendem zwischen anderen Unterscheidenden, die zwischen sich selbst und ihrer Umwelt und anderen Unterscheidenden unterscheiden und dabei sich selbst als Unterscheidende kreieren." [7] Generiert somit die initiale Unterscheidung allererst den Agenten, der sich dergestalt als nicht-identisch mit dem Raum weiß, so kann der Agent nicht mehr länger als vorgängige Bedingung der Unterscheidung gelten.

Jedoch verbietet sich ebenso die umgekehrte Lesart, also die Gründung des Agenten durch die Unterscheidung in einem linearen Sukzessionsverhältnis. Eine solche Ursprungskausalität, wonach die Unterscheidung irgendwie und irgendwo vorgängig die Bedingung des Agenten wäre, vernachlässigt, daß die Unterscheidung allein auf der Basis des sich selbst unterscheidenden Agenten zum Vollzug gelangen kann. Monokausale Verknüpfung also weder in die eine noch in die andere Richtung, hier tritt vielmehr eine Simultaneität auf, die sich als das Zugleich von aktual existentem Agenten und der ihn zeitgleich generierenden Unterscheidung begreifen läßt, oder anders: "das Treffen der Unterscheidung ist die Existenz des Agenten. [8]"

Gewährt aber der aktuale Vollzug der Unterscheidung die Existenz des Agenten, so ist damit in gleichem Maße die Gründung des Raumes angelegt, da die primäre Unterscheidung des Agenten ihn gerade als das 'Nicht' des Raumes signifiziert, womit der oben angeführte Satz dahingehend ergänzt werden muß, daß das Treffen der Unterscheidung die Existenz des Agenten und des Raumes ist.

Damit ist nun zweierlei deutlich geworden. Zum einen ist dies die generierende Kraft der Unterscheidung, des Unterschieds, die ein "es ist" erst ermöglicht. Der Unterschied wird somit eigentlich zu einem Medium, in dem, Heideggersch gesprochen, die Dinge sich ereignen können, "insofern er Welt und Ding in ihr Eigenes er-mißt. Sein Er-messen eröffnet erst das Aus- und Zueinander von Welt und Ding." [9]

Zum anderen, und das wird in der Folge noch zu erörtern sein, ist dies die intrikate Struktur der Unterscheidung, die sich als komplexer und simultaner Vollzug in seiner Dialektik dem Zugriff klassisch-logischer Abbildung ebenso hartnäckig widersetzt, wie den Versuchen, sie mit den Mitteln der prädikativen Positivsprache auszudrücken. Hier, "[i]n der Mitte der zwei, im Zwischen von Welt und Ding, in ihrem inter, in diesem Unter- waltet der Schied." [10], hier, wo also das Wort gebricht, ist dennoch das (Un)Ding des Unterschieds, es wandert unberührt zwischen solchen Zeilen, die es nur eingrenzen, nie fassen können.

Den Unterschied zu setzen, diese erste "cogitation" vor dem "cogito" zu vollziehen, bedeutet dann nichts weniger als die Identität und Selbständigkeit des Wesens, das sich cartesianisch noch ganz in der Abhängigkeit des guten Gottes wußte, und das jetzt in der Kindschaft des guten Menschen sein Licht erblicken soll. Den Unterschied, die Unterscheidung des Ich gegen das Andere zu ziehen, bedeutet dann die Wiederholung der koevolutiv erreichten Grenzziehung des Einen gegen das Andere im Artefakt technogener Reproduktion. [11] Und ist Operationalität gleich Implementierbarkeit, wäre die Operationalität der Unterscheidung deren potentiell unendlich distribuierbare Gravur in das (noch) daumennagel-große Silicium, wäre der endgültige Ausgang aus der defizitären Gottebenbildlichkeit hin zur Gottgleichheit.

Doch, und hier wendet sie die Eschatologie der KI ihren realen Befindlichkeiten zu, doch, so wird zu fragen sein, noch harrt die Elternschaft aus, noch ist das sich im Mechanismus aussprechende Ich ein Subjekt der Visionäre. Angesichts der euphorischen Adaption des Spencer-Brown-Kalküls eine schwer zu verstehende Retention.

2. Vor den Anfang

Wenn also mit dem ersten Zeichnen der Unterscheidung, dem Winkel des mark of distinction, der Raum in ein diesseits und jenseits des mark geteilt wird, dann muß der mit dieser Operation anhebende Kalkül der Unterscheidung gerade das Defizit der Unfaßbarkeit des Unterschieds kompensieren, muß somit die Mechanizität der Unterscheidung, der die klassische Logik hilflos und die Philosophie mit fragilen Eingrenzungsversuchen begegnet, in eine konsistente Formalisierung überführen.

Was aber genau verbirgt sich hinter der Unterscheidung, daß ihr die jene nicht zuletzt von Heidegger testierte Gründungskraft zukommt, wie konfiguriert sich die interne Struktur von Unterscheidendem und Unterschiedenem, von Unterscheidung und Unterschied, wenn darüber mehr ausgesagt werden soll, als daß ein Unterschied einen Unterschied ausmacht? [12] Und wie, so schließt sich die hieraus resultierende Frage an, wie muß ein Kalkül der Unterscheidung beschaffen sein, wenn "man es bei Unterscheidungen mit selbstreferentiellen Funktionen zu tun hat"? [13]

Selbstreferentialität der Unterscheidung läßt sich übersetzen als dieDialektik des Unterschiedes, wonach ein Unterschied erst signifiziert werden kann, nachdem etwas als unterschiedlich erkannt wurde und umgekehrt. Damit wäre es die Aufgabe eines solchen Kalküls, mit der Unterscheidung eine dialektische Operation zu formalisieren, womit gleichzeitig angedeutet ist, daß der geforderte Formalismus den Rahmen klassischer Aussagen-, Klassen- und Prädikatenlogik schon mit seinem Anspruch verlassen hat, da Dialektik, Selbstrückbezüglichkeit und Zirkularität die nicht zu überschreitende Demarkationslinie klassischer Logoismen bedeutet. Die angestrebte Formalisierung der Unterscheidung müßte den Versuch antreten, die simultane, wechselseitige Verwiesenheit und Gründung von Unterscheiden und Unterschiedenem einzufangen, müßte somit die Unterscheidung und den von ihr unterschieden Inhalt als zwei Aspekte (aktual/resultativ) an einem Phänomen begreifen, "daß nicht ad infinitum immer wieder eine weitere Unterscheidung getroffen werden muß, wenn man zwischen der Unterscheidung selbst und dem, was sie enthält, unterscheiden will." [14] Unterscheidendes und Unterschiedenes als zwei Seiten an der Medaille der Unterscheidung können dann aber nur struktural verstanden werden, entziehen sich notwendig der Möglichkeit positiver Distinktion, da diese allein auf dem Boden des Identitätsdenkens statt hat. Eine solche substantialistische Identität führt zwangsläufig zur Hypostasierung der beiden Aspekte von Unterscheidendem und Unterschiedenem, zwingt, wie oben angemerkt, in infiniter Reihe, endlos neue Unterscheidungen zwischen die dann als Entitäten begriffenen Aspekte zu schalten.

Damit konkretisiert sich die Forderung an den Kalkül, als die einer non-substantialistischen, nicht-positiven Abbildung der Unterscheidung, des simultanen Wechselspiels von Unterscheidendem und Unterschiedenem, was nichts anderes bedeutet, als die Forderung, den nichtursprünglichen Ursprung, den un-bedingten Vollzug der Differenzierung in actu abzubilden. Damit dringt der Kalkül in ein Jenseits vor, "das im Verhältnis zu Innerlichkeit unserer philosophischen Reflexion und im Verhältnis zur Positivität unseres Wissens so etwas wie das 'Denken des Außen'" bildet. [15] Es wäre die Formalisierung dessen, was bei Derrida unter dem Kunstwort der différance erscheint, jener sich jeglicher positiver Aussagbarkeit entziehenden Struktur oder Bewegung, "die sich nicht mehr von dem Gegensatzpaar Anwesenheit/Abwesenheit her denken läßt." [16] Jenseits von An- und Abwesenheit, das Gesamt der Positivität transzendierend, als "das Jenseits (epekeina) der Grenze, das dritte Geschlecht", [17] zeitigt die différance ihre Effekte in der nichtgetätigten Produktion der Differenz. Sie, "die diese Differenzen hervorbringt, geht ihnen nicht etwa in einer einfachen und an sich unmodifizierten, in-differenten Gegenwart voraus. Die différance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. Folglich kommt ihr der Name 'Ursprung' nicht mehr zu." [18]

Die Bedingung, die der Kalkül angesichts dieser "Verortung" der différance als das triton genos zu erfüllen hat, greift jetzt über die eingeforderte Dialektik, d.h über seine struktur-logische Verfaßtheit, aus auf seinesemantisch-semiotische Fundierung und F_llung. DaÆ beide Anforderungen ineinandergreifen, wundert dabei nicht, stellt gerade die substantialistische und identitätstheoretische Besetzung der klassischen Logik ihr ureigenstes Hindernis auf dem Weg dar, Linearität zu überwinden. "Semiotisch bezieht sich die Aussagenlogik auf den Bereich der Expressionen und ihre Formen, d.h. auf den Bereich des Apophantischen, während sich der CI auf den vor-prädikativen Bereich (Husserl) des Indikativischen bezieht." [19] Hier also wäre Varelas Anspruch gerechtfertigt, Begründung der Mathematik und Beschreibung insgesamt zu sein, wenn der CI den Bereich des Apophantischen nicht nur insgesamt übersteigt/unterläuft, sondern sich darüberhinaus als dessen nicht-voller, nicht-einfacher Ursprung erweist. Es wäre dann die präsemiotische Gewährnis der Differenz, die sich als nicht-positive, selbstreferentielle Zeitigung/Verräumlichung der Unterscheidung operationalen Zugriff in der Form der distinction/indication verschafft.

Non-substantialität und Präsemiotik, Selbstreferentialität und Dialektik - so also lauten die Parameter, unter denen die Schöpfungsgeschichte ihre Wiederholung als zweite Entäußerung des lumen dei erfährt. Und "Draw a distinction", die initiale Aufforderung, den Raum in ein Innen und Außen zu teilen, soll das Werkzeug ihrer Einschreibung werden. Zu diesem Zweck kennt die primary arithmetic des CI zwei basale Axiome, die die Mechanizität der distinction regeln. Axiom 1 oder the law of calling besagt, daß der Wert einer wiederholten Unterscheidung immer nur der einer Unterscheidung ist, somit durch die Wiederholung gleichwertiger Akte der Unterscheidung kein akkumulativer Qualitätszuwachs erreicht wird. Das Selbe in summarischer Addition ist dem Selben gleichwertig, "The value of a call made again is the value of the call.", [20] und entsprechend betitelt Spencer Brown die Form dieses Axioms als the form of condensation: | | = |. [21]

Auch bei Axiom 2, the law of crossing, handelt es sich um die wiederholt ausgeführte Unterscheidung, diesmal jedoch nicht in linearer Sukzession, sondern als die auf sich selbst angewandte Unterscheidung. Teilt der mark of distinction den Raum in zwei Teile, so ist der Weg vom Innen zum Außen dieser Grenze notwendig deren Überschreitung und der Rückgang aus dem Außen ins Innen entsprechend die zweite Überschreitung, genauer: die Inversion der ersten. Ebenso wie sich Vektor und Gegenvektor gegenseitig aufheben, ist der Wert der so beschriebenen, doppelten Überschreitung gleich dem einer nicht vollzogenen Überschreitung, also "for any boundary, to recross is not to cross." [22] Diese Wertaufhebung der doppelten Überschreitung findet ihren formalen Ausdruck dann in der form of cancellation mit dem auf der wertindizierenden Seite der Gleichung nicht eigens notierten Leerzeichen: = . [23]

Neben den grundsätzlichen Schwierigkeiten, die das Auslassen des Leerzeichens bedeutet, [24] stellt auch die linke Seite der Gleichung den CI vor nicht unerhebliche, immanente Probleme. Denn wenn eine Unterscheidung als Doppelung von distinction und indication den auf ihrer Innenseite auftretenden Wert immer signifizieren kann (p|), [25] erscheint im Fall der form of cancellation dieser Wert als eine erneute Unterscheidung ( ). Damit unterscheidet die Unterscheidung den Raum nicht mehr nur in ein Innen und Außen, sondern markiert das Innen als eine weitere Unterscheidung, d.h. die konkave Innenseite der Unterscheidung beinhaltet wiederum eine Unterscheidung, die ihrerseits den Raum erneut in ein Innen und Außen teilt. Es erwächst jedoch das Problem der konsistenten Benennung des Raumes, der sich zwischen den beiden mark of distinction erstreckt, insofern er für die äußere Unterscheidung das Innen, für die innere das Außen darstellt. Eine solche Überdetermination aber ist auf dem Boden des CI nicht widerspruchsfrei denkbar, da nicht nur eindeutig gilt, "Call the concave side of token its inside.", [26] sondern explizit festgestellt wird, "In general, what is not allowed is forbidden." [27] Somit gilt hinsichtlich des Raumes zwischen den Markierungen strikt ~(~a et a), tertium non datur, er ist entweder Innen- oder Außenraum, gleichzeitig aber und nicht minder valent, ist er in Abhängigkeit der jeweiligen distinction eben doch Innen und Außen.

Das Innen ist das Außen, das Selbe ist das Andere - angesichts der die klassische Logik fundierenden Sätze der Identität, des verbotenen Widerspruchs und des ausgeschlossen Dritten eine nicht zu erfüllende Überdetermination, die auch die logische Faßbarkeit des CI überschreitet. Gerade aber in der universalen und absolut geltenden Herrschaft dieser "logischen Trinität" liegt das eigentliche Hindernis klassischer Kalküle, Dialektik, Selbstreferentialität, Zirkularität einfangen zu können. Gilt die Selbstidentität eines jeden Datums an jeder Raum-Zeit-Stelle des Universum in der Weise absolut, daß eine je in Abhängigkeit unterschiedlicher Kontexte vollzogene qualitative Doppel- oder Mehrfachbesetzung ausgeschlossen ist, daß der einmal vollzogene Entscheid relationaler Zuordnung zu einem Kontext nicht hintergehbar ist, dann gilt mit Gotthard Günther die damit instantierte logische Hierarchie als eine Monokontextur. Für den hier vorliegenden Fall wäre der restriktive aber unausweichliche Grundentscheid dahingehend zu treffen, daß der Raum zwischen den Unterscheidungen, entweder als Außen oder als Innen zu gelten hätte, da die Aspektdoppelung eines "Sowohl-als-Auch" in Abhängig der jeweiligen Unterscheidung - also Innenraum für die äußere, Außenraum für die innere Unterscheidung - die Universalität des TND sprengt. Gerade aber die Möglichkeit dieses "Sowohl-als-Auch", die Überdetermination widerspruchsfrei abbilden zu können, ist die kalkültechnisch notwendige Bedingung für Selbstreferentialität und Dialektik.

Der CI jedoch definiert sich über einem logisch homogenen Raum, innerhalb dessen es keine, von Günther als Diskontexturen eingeführten, logischen Abbrüche gibt, die den universalen Absolutheitsanspruch des TND in eine partikulare, heterarche Absolutheit überführen würden. Eine solche diskontexturale Verteilung und Vermittlung logischer Systeme, für die die Absolutheit der klassisch-zweiwertigen Logik nur noch interne Gültigkeit besitzt, ist dann das Abgehen von der Hierarchie zur Gleich-Gültigkeit nebeneinander bestehender Elementarkontexturen. "In the terminology of poly-contexturality, heterarchy is constituted inter-contextural, whereas intra-contexturally all descriptions (of systems or processes) are hierarchically structured. Intra-contexturally, i.e. within the logic of contexture, the transitivity law holds rigorously, as do all classic logical rules." [28]

"Draw a distinction." - zwar dringt Spencer Brown mit der Zwei-Seiten-Form der Unterscheidung in vor-prädikative, non-substantialistische Bereiche vor, innerhalb derer der Vollzug der Unterscheidung als nicht-ursrünglicher, un-bedingter, den Agenten und also den Raum der Unterscheidung selbst setzender Akt entspringt, doch versagt ihm die monokontexturale Einbindung der Unterscheidung, Unterscheidendes und Unterschiedenes, distinction/indication, als simultane und gleichursprüngliche Aspekte der Unterscheidung aufzufassen. Unterscheidung (mark) und Benennung des Unterschiedenen (value) bleiben im CI eigenständige und prozessual vermittelte Größen, die sich somit gerade der in der différance angelegten dialektalen Gründung entziehen. [29]

Es mag an dieser Stelle der Einwand erhoben werden, daß das hier vorgeführte Problem ein Scheinproblem sei, da sich die Schwierigkeit bzgl. des "Zwischenraumes" allein aufgrund einer ungerechtfertigten Interpretation des law of crossing ergebe. Denn wenn es dort heiße "to cross a boundary and then [...] to cross it again", [30] dann gehe daraus eindeutig hervor, daß es sich um eine Grenze handele, die allein zweimal überschritten werde, folglich also überhaupt kein Raum zwischen zwei Markierungen auftreten könne. Zu dieser Berufung auf die konzeptionellen Ausführungen innerhalb des law of crossing muß jedoch gesagt werden, daß diese nicht isoliert stehen und demgemäß nicht als isolierte Sätze gelesen werden dürfen. So heißt es in Kapitel 2, das die Notation der beiden Axiome bestimmt, "Call the parts of the space shaped by the severance or cleft the sides of the distinction or, alternatively, the spaces, states, or contents distinguished by the distinction." [31] Gilt dies für jede Unterscheidung, [32] und werden innerhalb der form of condensation getrennt notierte marks of distinction als jeweils eigenständige Unterscheidungen identifiziert (sonst wäre der Ausdruck | | = | keiner Erwähnung wert, da er gleichbedeutend mit | = | wäre), so muß dies auch für die form of cancellation gelten. D.h. das zweimalige Auftreten des mark of distinction muß als formaler Ausdruck für das zweimalige Ziehen einer Unterscheidung, also für zwei distinkte Unterscheidungen aufgefaßt werden. Dabei ist es dann gleichgültig, ob diese zwei Unterscheidungen als der im law of crossing angesprochene doppelte Grenzübertritt einer Grenze interpretiert werden, denn die form of distinction legt eindeutig fest, daß jede Unterscheidung ihren eigenen Raum (innen und außen) mit klar angebbarem Inhalt bildet. D.h. der im law of crossing erhobene Anspruch, es handele sich um eine Grenze, die zweimal überschritten werde, wird hinsichtlich der Formalisierung innerhalb der form of cancellation irrelevant, insofern die an dieser Stelle auf sich selbst angewandte Unterscheidung notwendig mit zwei marks of distinction, und also mit zwei von diesen konstituierten Innen- bzw. Außenräumen arbeiten muß. Allein auf diese in der Formalisierung angelegte Ambiguität aber bezieht sich die hier erhobene Kritik, die also durch den Verweis auf eine Grenze gänzlich unberührt bleibt.

Dennoch soll an dieser Stelle gleichsam die Gegenprobe erfolgen, die sich mit dem Hinweis darauf verbindet, von welcher Qualität die angestrebte non-monokontexturale und präsemiotische Formalisierung der Selbstbezüglichkeit zu sein hätte.

3. Vom Ursprung

Levebvre [33] und Kaehr [34] weisen darauf hin, daß sich im sovietischen und im westlichen Raum zwei unterschiedliche Paradigmen herausgebildet haben, unter denen jeweils das Phänomen der Selbstbezüglichkeit thematisiert wird. Günther folgt dem sovietischen Schema, d.h. Selbstbezüglichkeit tritt bei ihm nicht im Vokabular der westlichen Kybernetik auf, vielmehr hält er in diesem Punkt die Kontinuität aufrecht, welche mit seiner Hegel-Dissertation ihren Anfang nahm, und die sich demgemäß in reflexionstheoretischem Terrain bewegt - also Selbstreflexivität anstelle von Selbstrefrentialität. Inwieweit diese Unterscheidung in dem hier verfolgten Kontext einige nicht unerhebliche Konsequenzen zeitigt, wird deutlich, wenn "Draw a distiction." als Aufforderung gilt, simultan eine Unterscheidung und eine Bezeichnung zu treffen. Unterscheidung und Bezeichnung heißt bei Spencer Brown aber, als observer etwas von diesem observer Verschiedenes zu unterscheiden/bezeichnen, heißt ein heteroreferentielles Beziehungsgefüge zu instantieren. Die hier als indication und distinction konkretisierte Heteroreferenz jedoch basiert auf einer Reflexionsleistung des observers, der sich einmal als das Andere gegenüber dem Unterschiedenen weiß und zum zweiten dieses Andere gegen anderes Anderes unterscheidet und bezeichnet. Auf dieser Stufe der Reflexion spricht Günther vom "doppelt reflektierten Bewußtsein", [35] da hier sowohl das Selbstbewußtsein des observer, als auch dessen Objektbewußtsein notwendig vorausgesetzt ist. D.h. innerhalb der in Anlehnung an Hegel formulierten Rangfolge der Bewußtseinsstufen wäre die Maximalstufe erreicht, insofern alle drei Reflexionsstufen gegeben sind. (unmittelbares Bewußtsein = "reine, unreflektierte" Perzeption; einfach reflektiertes Bewußtsein = Reflexion in anderes; doppelt reflektiertes Bewußtsein = Reflexion der Reflexion in sich und anderes) Sie sind gegeben, sie sind notwendig für den Akt der indication/distinction, und dieser Akt kann umgekehrt legitim als ihre Manifestation verstanden werden.

Interessant ist nun die Situation, die sich bei einem Transfer des Güntherschen Reflexionsparadigmas auf das erste Axiom Spencer Brown's ergibt. Wenn dort die mehrfach wiederholte Unterscheidung (zurecht) nichts an Wertzuwachs zu erreichen vermag, so spiegelt sich hierin das Problem des deutschen Idealismus in seiner gesamten Verfahrenheit wider. Dort nämlich bestand die Schwierigkeit, die letztlich zum Scheitern führte, darin, daß die unzähligen Wiederholungen der Subjekt-Objekt-Spaltung innerhalb der jeweils neu zu beschreitenden Meta-Ebenen der Reflexion an keiner Stelle zu der ersehnten Einheit des vollständigen Selbstbewußtseins führte, diese vielmehr die Reflexion in unabläßlicher Selbstobjektivierung in einen infiniten Regreß trieben. Anders ausgedrückt bedeutet dies, daß jede weitere Reflexion, die auf die letzte der drei angeführten Stufen folgt, keinerlei qualitativen Zuwachs erbringt, sondern strukturell permanent den gleichen Reflexionsprozeß vollzieht. An der strukturellen Gleichheit ändert auch der von Mal zu Mal anwachsende Ballast der vorangegangenen Reflexionen nichts, bei gleichbleibender Reflexionstiefe ist der Reflexionsbreite im infiniten Regreß kein Ende zu bereiten. Somit liefert der einmal vollzogene Reflexionsakt - um mit Spencer Brown zu sprechen - seinem Wert nach genausoviel, wie der zwei- oder n-mal vollzogene gleiche Akt, es gilt also "to recall is to call." [36] oder in der Formalisierung | | = |.

Günthers Reflexionstheorie schlägt nun dahingehend einen Ausweg aus der schlechten Unendlichkeit vor, daß in einer weiteren (vierten) Reflexionsstufe nicht mehr auf das objektive Sein reflektiert wird, wie dies in den ersten drei, sowie in den diese iterierenden Folgestufen der Fall ist. [37] An die Stelle des positiven Seins tritt auf der vierten Stufe der Reflexionsprozeß selbst, so daß das Referenzobjekt "die Idee der Totalität der infiniten Folge der Iterationen" selbst wird. [38] Taucht innerhalb dieser Reflexionsstufe im Gegensatz zu den klassischen Iterationen nun eine neue Thematik auf, insofern die Reflexionsbreite selbst zum Gegenstand wird, so vergrößert sich damit aber die Reflexionstiefe, d.h. die Thematisierung der unbegrenzten Reflexionsbreite wirkt hinsichtlich des Gesamtkomplexes der Reflexion einerseits begrenzend (in Bezug auf die Reflexionsbreite), gleichzeitig, allerdings als ein einmaliger und nicht weiter zu perpetuierender Prozeß, besitzt sie auch entgrenzende Funktion (in Bezug auf die Reflexionstiefe). Der infinite Regreß ist zum Halten gebracht, insofern die nun erreichte Reflexion sich nicht mehr, wie in den endlosen Iterationen zuvor, auf sich selbst als eigenen thematischen Objektbereich bezieht, sondern nun allein strukturell auf sich selbst reflektiert. "Die infinite Reihe aller Reflexionen ist also bloßes Objekt dieser vollsten aller Stufen des Bewußtseins. Die Iterativität wird dadurch, wie nicht ausdrücklich genug hervorgehoben werden kann, gegenständliches Moment am Selbstbewußtsein, d.h. ihre Identität mit dem 'Selbst' durch diese Distanzierung ausdrücklich negiert." [39]

Dieser Gedanke läßt sich in Parallele zur Russellschen Typentheorie [40] veranschaulichen, wonach eine Menge nie Element ihrer selbst sein kann. In dem hier vorliegenden Fall, in dem es sich zwar nicht um Mengen, jedoch um Ebenen unterschiedlicher logischer Komplizität handelt, besteht die typentheoretische Verunmöglichung darin, daß die umfassendste Reflexionsebene sich nicht als thematischer Reflexionsinhalt selbst beinhalten kann, da sonst Gegenstand und Prinzip auf dieser Ebene konizidieren.

In dem Moment also, in dem die Reflexion sich auf sich selbst alsStruktur bezieht, unterscheidet sie sich kategorial von den vorherigen Stufen, die als seinsthematisch gefüllte nie den Sprung aus dem Dilemma der Subjekt-Objekt-Spaltung heraus schaffen. Kommt diese Unüberwindlichkeit zum Ausdruck in der Wertgleichheit der Iterationen ( | | = |; Reflexionsbreite), so kann nun der Zuwachs an Reflexionstiefe als die Anwendung der Reflexion auf diesen sich stets iterierenden und also gleichbleibenden Wert verstanden werden ( |). Anwendung der Reflexion auf die infinite Reihe der objektiv gebunden Reflexionen bedeutet dann aber, daß das so erlangte Selbstbewußtsein sich aus dem Gesamt der objektiven Reflexionen ergibt, gleichzeitig aber mit ihnen nur der Idee nach zusammenfällt, da es sie allein strukturell zum Objekt hat. D.h. das Selbstbewußtsein besetzt "den Ort des transfiniten Ursprungs jeder infiniten Reflexionsreihe." [41] Aus dieser, wie Günther es nennt, transfiniten Mächtigkeit heraus "erfährt sich das Selbstbewußtsein endgültig als Selbst, weil es sich nicht mehr im Sein und vermittelt durch das Sein, sondern in der reinen Reflexion selbst spiegelt und damit ein definitives Verhältnis zu sich selbst gewonnen hat." [42] Nicht mehr im Sein, sondern reines Reflexionsverhältnis andauernder Selbstreflexion zu sein, heißt aber, als Negation des positiv designierten Seins zu gelten, was nichts anderes ist, als das Nichts, | = .

Somit scheint sich als überraschende Konsequenz anzubahnen, daß der calculus of indication in seiner Axiomatik durchaus mit den von Günther verfolgten reflexionstheoretischen Paradigmen kompatibel ist, was im Zusammenhang mit den oben erwähnten Ausführungen von Lefebvre und Kaehr darauf hin deutet, daß der CI doch einen gelungenen Versuch der Formalisierung von Selbstreflexion/Selbstreferenz darstellt. Ein solcher Verdacht liegt nahe, doch läßt sich dies nur dann mit gutem Gewissen bestätigen, wenn man darüber hinweg sieht, daß die beiden Durchgänge durch den CI, die zu solch unterschiedlichen Ergebnissen gelangten, von ebenso unterschiedlichen Voraussetzungen ausgingen.

Wenn die Günthersche Reflexionsthematik auf den Kalkül appliziert wurde, so geschah dies entlang des vom frühen Günther verfolgten Impetus', den tranzendentalen Idealismus wenn nicht zu beenden, so doch in seinen Problemen zu befrieden. D.h. es handelt sich hierbei um erkenntnis- und reflexionslogische Probleme, wie sie sich in der Tradition Kants, Fichtes, Hegels und Schellings stellen. Damit aber ist der Rahmen, innerhalb dessen sich ein solches Unterfangen bewegt, das erkennende Bewußtsein, wobei die Betonung eindeutig auf dem unären das liegt. Wie ist Erkenntnis und dann auch in Einheit gedachte Selbsterkenntnis für das denkende, erkennendeBewußtsein gewiß zu erlangen?

Geht es dort um die Bedingungen der Möglichkeit des Erkennens für das endliche Bewußtsein, so ist die nie in Frage gestellte Voraussetzung die Einheit des Erkenntnisraumes, auch wenn sie um den Preis der Hypostase eines transzendentalen Subjektes erkauft werden muß. Anders ausgedrückt handelt es sich grundsätzlich um eine Philosophie des Ich, was nicht bedeutet, daß das Ich zum maßgeblichen Thema wird, sondern auf die Selbstverständlichkeit abzielt, mit der vom Ich her und nur aus diesem Raum heraus in vollständiger Unabhängigkeit und Ignoranz eines Du, spekuliert wird. Das von mir und für mich als gewiß erkannte wird notwendig für alle anderen Bewußtseinsräume als zwingend präsupponiert, ja erhebt den Anspruch, diese als eine "Spielart" des eigenen und also allgemeinen Erkenntnisvermögens zu deuten. Somit geht das Interesse des kritizistischten, spekulativen oder transzendentalen Idealisten von dem einen und im gleichen Maße allgemeinen Bewußtsein aus, die Basis eines solchen Denkens ist ein absoluter Logozentrismus, die totale Monokontexturalität bezüglich Erkenntnisvermögen und Erkenntnisgegenstand.

Wenn nun Günthers Reflexionslogik sich anhand dieser Problematik entwickelt, so kreisen seine Überlegungen zunächst um die konstitutionellen Bedingungen des Selbstbewußtseins, d.h. um die Frage, wie es aus sich selbst heraus reflexional zu einem strukturellen Begriff seiner selbst gelangen kann. Auf dieser Stufe ist also vom Anderen noch keine Rede, und isoliert betrachtet läßt sich diese Analyse mit vollem Recht als eine monokontexturale klassifizieren. Seine frühen reflexionslogischen Erörterungen stehen also noch deutlich auf dem Boden der Transzendentallogik, d.h die dialogische Konstitution und Konstruktion eines komplementären Ich-Du-Verhältnisses findet hier erst ihre vorbereitende theoretische Fundierung.

Wenn diese letzten Überlegungen nun wieder in Anbindung an SpencerBrown gesehen werden, so zeigt die Adaption seines Kalküls auf die reflexions- und transzendentallogischen Ausführungen Günthers, daß dieser Transfer offensichtlich nur dann Erfolg verspricht, wenn Günther selber in monokontexturalen Strukturen verbleibt, weisen im Umkehrschluß deutlich die monokontexturale Verfaßtheit des CI auf. Unter polykontexturalem Gesichtspunkt bleibt die oben angeführte Überforderung des calculus of indication zweifelsfrei bestehen, die notwendige Dialektik, die erforderlich ist, simultan-komplementäre Prozesse abzubilden, bleibt ihm verschlossen. Solche Prozesse beschreiben zu können, ist jedoch eine unumgängliche Voraussetzung, will man Selbstreferentialtät adäquat für einen Formalismus operabel gestalten. Denn Selbstreferentialität, so sie nicht mehr von einen mehr oder weniger latenten Ursprungsdenken herrührt, sondern in zeitgleicher, wechselseitiger, nichtlinearer Gleichursprünglichkeit erfaßt werden soll, kann nicht umhin, sich als diskontexturales, heterarches und proemial vermitteltes, komplexes System zu verstehen. Dieser Anspruch aber erging an die reflexionslogische Konstitution des Selbstbewußtsein nicht, da Günther auf dieser Stufe weder die dia-logische Konstruktion des Selbst aus dem Ich-Du-Verhältnis heraus, also Subjektivität als distribuierte entwickelt, noch die dialektische Vermittlung von Kognition und Volition als mechanistische Grundstruktur des Subjektes im Blick hat.

Somit bleibt der CI hinsichtlich der selbst gestellten Ansprüche unbefriedigend, insofern er als ein auf dem Boden der Monokontexturalität konzipierter Formalismus nicht in der Lage ist, der darin angelegten Linearität zu entkommen. D.h. er bleibt einem Ursprungsdenken verhaftet, das damit auch ein Denken der Identität ist, dem es gerade zu entfliehen gilt, wenn die Dialektik der différance nicht mehr länger nur eine positivsprachliche Umschreibung, sondern eine negativsprachliche Abbildung erfahren soll. Dem CI jedoch ist es versagt, Selbstbezüglichkeit ohne zeitlich-sukzessive Vermittlung abzubilden, die Figur der re-entry leistet den Wiedereintritt eben als ein wieder und nicht als eine simultane Genese von Unterscheidendem und Unterschiedenem, wie es der Differenzierung eigen ist.

4. Vom Sprung

"Draw a distinction." - Der Appell, mit dem Eindringen in das Denken des Außen (Foucault) auf Suche nach dem triton genos (Derrida), der Gottgleichheit ein gutes Stück näher zu kommen, erweist sich dort als zielrichtig, wo die Positivität, die Seinsthematik aus der angestrebten Form der Unterscheidung verbannt wird. Eine solche Form hätte damit nicht mehr Struktur des Prädikativen zu sein, wäre vielmehr die Struktur dieser Struktur, insofern sie das positiv nicht mehr signifizierbare Unterscheiden der Unterscheidungen selbst abzubilden hätte, insofern sich in ihr die Differenz der Differenz, als das asubstantielle und negative Nicht eines anderen, nicht-apophantischen "Ist-Nicht", Ausdruck verschafft. So wäre sie Bedingung der Möglichkeit des Unterschieds, d.h. die strukturelle Voraussetzung, auf der Spencer Brown den mark of distinction überhaupt erst ziehen/erkennen kann, die sich dann als multinegationales System der Einschreibung von Negativitäten gerade wieder der prozessualen Darstellbarkeit dieser Einschreibung öffnet. Solcherart ist die operationale Notation dessen gefordert, das kein positives Datum mehr ist, das als die Einschreibung des Nichts, das nicht nichts ist, zu gelten hat, das das kenos, also das Leere selbst zum Inhalt seiner Grammatik hat.

Und zum anderen hätte diese Form der Differenzierung der Differenz, sich der wechselseitigen Gleichursprünglichkeit zu öffnen, die alleine die nicht mehr zirkulare (und somit wieder auf die Linie zurückführbare), sondern dialektische Struktur der Unterscheidung als simultanes Sich-Begründen von Unterscheidendem und Unterschiedenem aufzufangen im Stande ist. Sie bedarf dieser Öffnung, die sich ergibt, wenn mit dem säkularen Einbruch des Jenseits in Homogenität des egozentrischen Universums der Anspruch preisgegeben wird, die Konsistenz des Denkens von der Universalität des einen Raumes des Denkens abhängig zu machen, wenn der Mono-Logos in die kontexturale Vielheit in sich absolut konsistenter Räume aufgebrochen wird. Das Ganz-Andere als Spiegelung, Wiederholung und Bedingung des Selben - es wäre die Bedingung der Dialektik im Kalkül, wie deren Fortschreibung in der multilateralen Genese der Subjekte.

Distribution, Dissemination, Diskontexturalität, Polykontexturiertheit - all das mögen schwache Indices dafür sein, daß es ein solches Aufbrechen des mono-logischen Raumes bereits gibt, mögen schwache Metaphern dafür sein, daß sich das Denken auf den beschwerlichen Weg gemacht hat, mit den Restriktionen seiner selbst auch die Bequemlichkeit zu verabschieden, in der es in abgeschiedener Introspektion zum vollgültigen Bild seiner selbst zu elangen glaubte. Doch liegen gerade in diesem Abschied die pradoxalen edingungen, unter denen sich das Ich die angestrebte Gottgleichheit aneignet, wenn es die heterarche Verteilung von Subjektivität über den von endlosen, kategorialen Abbrüchen zerfurchten Raum affirmiert und in der Pluriversalität seiner parallelisierten Absolutheit die äquivoke Ansprache der Alter-Egos vernimmt. Paradoxie, insofern es allererst der Dethronisierung des absoluten Ichs bedarf, um gerade dieser Unter- und Nebenordung die Schöpferkraft der artifiziellen Distribution seiner selbst zu entlehnen, womit auf anderem Weg sich die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung anbahnt, wenn der Schöpfer sich selbst nicht mehr als Urbild im Abbild wiederholen kann. Das diskontextural situierte Du erübrigt die Rede von Urbild/Abbild, die ehedem feste Grenze hat sich verflüssigt, und das sich in der maschinalen Wiederholung begegnende Selbst hat die Gewißheit verloren, ob es sich als Abbild oder Urbild, als Selbst oder Anderes anspricht.

Und paradox zum anderen, insofern die Wiederholung von Subjektivität, das Gründen nicht-menschlicher Kognition, dem menschlichen Subjekt den Spiegel vorhält, in dem es seine eigene und höchst spezielle Form der Kognition eben als nur eine Spielart erkennt. Mögen Kontexturiertheit und damit einhergehende Distribution für sich genommen den Glauben an die sich selbst entäußernde Rolle aufrecht erhalten lassen, die der Menschengeist im Emanationsgeschäft der KI einnimmt, und mögen die Propagandisten der KI dies selbst auch glauben, so macht der selbstreferentielle Kalkül [43] nicht Halt an dieser Stelle. Anders als in der KI, wo allein eine "dem Phonologismus entsprechende idealistische Konzeption von Kognition realisiert ist, und somit keine Ablösung von menschlichen Strukturen" ermöglicht wird, [44] wäre der Kalkül, der dann mit vollem Recht dem Anspruch Varelas Rechnung trüge, eine Begründung der Mathematik und Beschreibung insgesamt zu sein, ein "Instrumentarium, in dem man logikunabhängige Strukturen notieren kann, womit ein entsprechender Operativitätsbegriff entsteht, der unabhängig ist vom semiotisch-arithmetischen Konzept von Rekursion und Berechenbarkeit." [45] Damit wäre ein anderer Weg beschritten als der, dem die KI folgt, wenn sie immer noch und tatsächlich daran festhält, Erkenntnisse über Kognition dadurch zu erlangen, daß sie Kognitionsleistungen, wie sie ihr bereits bekannt sind, in den Mechanismus implemeniert. Gefordert ist vielmehr eine zweite Dethronisierung, ist die Aufgabe der, sei es dualistischen, sei es monistischen Anthropozentrik, die Kognition nicht anders als in der Trägerschaft des Geistes bzw. der Materialität des menschlichen Gehirns denken kann.

Das Abgehen vom absoluten Ich, dem der Andere einzig als derivative und kontingente Spielart seiner selbst erscheint, und der Abschied von dem Aberglauben, daß die zweiwertige Struktur des Denkens, also die zufälligeRealisation von Kognition im Menschen, die nicht hintergehbare Basis für Kognition schlechthin ist, das also ist der Preis der abgestrebten Gottgleichheit. Erst mit dieser Begrenzung des Subjekts, kann die Entgrenzung der Subjektivität im Sinn ihrer Subversion beginnen, die sich in der Sprache der Schöpfungsmythologie als das "wir" der Gottheit ausdrückt. Es scheint, als wäre es schon gewußt worden, daß Schöpfung sich nie als identitäts- und ursprungstheoretische Entäußerung des unären Ich ereignen kann, sie vielmehr und zu allererst die Einschreibung der Differenz zu sein hat. "Laßt uns nach unserem Bilde bilden!" - Hier ist die Grenze, das unüberwindliche Obstakel des Anderen als die Begingung des Selbst in diesemschon mit angelegt, hier spricht sich aus, daß der nichturspüngliche Ur-sprung die sich unterscheidende Unterscheidung ist, der sich Raum und Zeit, Ich, Du und Es allererst verdanken. So verstanden, als die gründend-begründend sich vollziehende Unterscheidung, der nichts vorausgeht und der kein "es ist" eignet, so verstanden und in die Kontexturiertheit des damit sichgenerierenden Pluriversums eingebettet, so verstanden mag mit "Draw a distinction" dann tatsächlich die Aufforderung ergehen, den dritten Schöpfungsbericht zu schreiben, als dessen Griffel das Kenogramm bereitsteht.


Footnotes

[1]"Scheidekunst" ist das in Vergessenheit geratene Wort für "Chemie", und rührt aus der Zeit, als ihr Hauptinteresse noch darin lag, die Elemente zu trennen, zu identifizieren, zu entdecken. Wenn "chemisch" heute eher in der Bedeutung von "künstlich zusammengesetzt" auftritt, dann spiegelt sich in diesem Bedeutungswandel gerade die Schöpferrolle der Unterscheidung wider, der an diese Stelle nachzugehen sein wird.

[2]G. Spencer Brown: Laws of Form. Toronto et al. 1973, S. 3

[3]F. J. Varela: Principles of Biological Autonomy. New York Oxford 1979, S.110

[4]Genesis 3, 22

[5]G. Spencer Brown: a. a. O., S. 3

[6]Hier also ist an all jene Arbeiten zu denken, die sich durch die Einbeziehung des Observers in die Beobachtung, d. h. durch den Komplexitätszuwachs der sich simultan vollziehenden (Selbst)Unterscheidung des Systems (beobachtetes und beobachtendes System), als "second order cybernetics" von der Stufe der "first order cybernetics" unterscheiden.

[7]R. Kaehr: Zur Logik der_Second Order Cybernetics_. Von den _Laws of Form_ zur Logik der Reflexionsform. in: Kybernetik und Systemtheorie. Wissenschaftsgebiete der Zukunft? Hrsg. v. Institut für Kybernetik und Systemtheorie an der TU Dresden. Greven 1991, S. 129-54, hier S. 130

[8]R. Glanville: Objekte. Berlin 1988, S. 152

[9]M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959, S. 25

[10]a. a. O., S. 24

[11] In Parenthese sei darauf hingewiesen, daß die in KI-Kreisen modisch gewordene Rede vom "In-der-Welt-sein" des (vor allem konnektionistischen) Systems, wenn überhaupt, an die dieser Stelle ihren Anfang zu nehmen hätte. Auch unter gutwilliger Ausblendung der vollen Bestimmung des "In-der-Welt-seins" kann es allein hier in Ansatz gebracht werden, wo die Unterscheidung, "das Unterscheidenkönnen, in dem die ontologische Differenz faktisch wird, die Wurzel seiner eigenen Möglichkeit im Grunde des Daseins geschlagen [hat]. Diesen Grund der ontologischen Differenz nennen wir vorgreifend die Transzendenz des Daseins." (M. Heidegger: Vom Wesen des Grundes. Frankfurt/M 71983, S. 15) Hier relativiert sich dann auch der Vorwurf des Heideggerschen Geschichts-Chauvinismus', den Leidlmair in der allein durch die Geschichtlichkeit des Daseins gewährleisteten Offenheit des Daseins für die Welt sieht. (vgl. K. Leidlmair: Natur und Geist - ein nicht hintergehbares Verhältnis. Heidegger oder Künstliche Intelligenz? Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion. 12, S. 20, 28) Diese Offenheit verdankt sich vielmehr der Transzendenz, die als zirkuläre Selbstunterscheidung des Daseins seine Wesensverfassung darstellt, insofern Dasein heißt, "in und als Transzendenz Seiendes zu sein. Das Transzendenzproblem läßt sich nie so erörtern, daß eine Entscheidung gesucht wird, ob die Transzendenz dem Subjekt zukommen könne oder nicht, vielmehr ist das Verständnis von Transzendenz schon die Entscheidung darüber, ob wir so etwas wie 'Subjektivität' im Begriff haben [...] [I]m Überstieg und durch ihn kann sich erst innerhalb des Seienden unterscheiden und entscheiden, wer und wie ein 'Selbst' ist, und was nicht. [...] Mit dem Faktum des Daseins ist vielmehr der Überstieg da. [...] Wir nennen das, woraufhin das Dasein als solches transzendiert, die Welt und bestimmen jetzt die Transzendenz als In-der-Welt-sein." M. Heidegger: Vom Wesen des Grundes. S. 18f

[12]So etwa G. Bateson: Form, Substanz, Differenz. in: ders.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt/M 31990, S. 576-97, vgl. hier S. 582

[13]D. Baecker: Die Kunst der Unterscheidung. in: ars electronica (Hg): Im Netz der Systeme. Berlin 1990, S. 7-39, hier S. 16f

[14]R. Glanville: a. a. O., S. 153

[15]M. Foucault: Das Denken des Außen. in: ders.: Von der Subversion des Wissens. Hrsg. v. W. Seiter. Frankfurt/M 1987, S. 46-68, hier S. 49

[16]J. Derrida: Positionen. Graz Wien 1986, S. 67

[17]J. Derrida: Wie nicht sprechen. Verneinungen. Wien 1989, S. 64

[18]J. Derrida: Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S. 37

[19]R. Kaehr: a. a. O., S. 133

[20]G Spencer Brown: a. a. O., S. 1

[21]a. a. O., S. 5

[22]a. a. O., S. 2

[23]a. a. O., S. 5

[24]Ein Problem besteht beispielsweise darin, daß eine Gleichung sich immer in beide Richtungen lesen lassen muß, so daß hier gilt: ex nihilo quodlibet.

[25]"Once a distinction is drawn, the spaces, states, or contents on each side of the boundary, being distinct, can be indicated." a. a. O., S. 1

[26]a. a. O., S. 5

[27]a. a. O., S. 3

[28]R. Kaehr, E. v. Goldammer: Problems of Autonomy and Discontexturality in the Theory of Living Systems. in: D.P.F. Möller, O. Richter (Hgg): Analyse dynamischer Systeme in Medizin, Biologie und Ökologie. Heidelberg et al. 1991, S.3-12, hier S.11

[29]Hieran ändern auch die Anstrengungen Varelas nichts, da er nicht an der (monokontexturalen) Wurzel des Problems ansetzt, sondern dessen Symptome zu glätten sucht. Wenn er in seinem extended calculus of indication die neue Form des self-cross einführt, um den re-entry als dritte Form (neben marked und unmarked state) von seiner Prozesshaftigkeit zu befreien, so versucht er damit zwar, das rationale und prozessual vermittelte Beziehungsgefüge von Unterscheidung und Unterschiedenem aus der darin angelegten Sukzession und infiniten Regression zu lösen, doch ändert auch die Interpretation des re-entry als Form nichts an der ontologisierenden Zweiteilung, innerhalb derer sich die folgenschwere Hypostasierung der beiden Aspekte (Unterscheidendes/Unterschiedenes) als eigenständige Entitäten nicht vermeiden läßt. Abgesehen davon, daß der re-entry als zirkuläre Form problemlos auf die Linearität des Ursprungsdenkens rückführbar ist, sprengt das Konzept der distinkt bestimmbaren Relata der Unterscheidung (Unterscheidendes/Unterschiedenes) von vorn herein den Anspruch des CI/ECI, ein Kalkül der Selbstreferentialität zu sein, da sich hier eindeutig und unumstößlich zwei solitäre Entitäten aufeinander beziehen, die somit in einem heteroreferentiellen Beziehungsgefüge stehen. Vgl. F.J. Varela: a. a. O., Kap. 12, S. 122-69, sowie ders.: A Calculus of Self-Reference. Int. J. Gen. Sys. 2. 1974, S. 5-24

[30]G. Spencer Brown: a. a. O., S. 2

[31]a. a. O., S. 3

[32]"Call the space cloven by any distinction, together with the entire content of the space, the form of distinction." ebd.

[33]V.A. Lefebvre: Second Order Cybernetics in the Soviet Union and the West. in: R. Trappl (Hg):Power, Autonomy, Utopia. New Approaches toward Complex Systems. New York 1986, S. 123-31

[34]R. Kaehr: Vom 'Selbst' in der Selbstorganisation. Reflexionen der Konzeptionalisierung und Formalisierung selbstbezüglicher Strukturbildung. in: W. Niegel, P. Molzberger (Hgg): Aspekte der Selbstorganisation. Heidelberg et al. 1992, S. 170-83

[35]G. Günther: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. 3 Bd. Hamburg 1976-80, hier Bd. I, S. 58

[36]G. Spencer Brown: a. a. O., S. 1

[37]Auch das doppelt reflektierte Bewußtsein ist ein seinsthematisches Reflektieren, insofern es das Bewußtsein des Bewußtseins einer Perzeption darstellt. Daher kann in der Folgeiteration qualitativ hierüber hinaus kein Fortschritt erzielt werden, da jede Iteration eine weiteres "Bewußtsein des ..." vor die obige Reihung schriebe.

[38]G. Günther: a. a. O., S. 57

[39]a. a. O., S. 57f

[40]vgl. A.N. Whitehead, B. Russell: Principia Mathematica. 3 Bd. Cambridge 1910-13

[41]G. Günther: a. a. O., S. 66f

[42]a. a. O., S. 71

[43]Es ist durchaus keine Spitzfindigkeit, wenn Rudolf Kaehr eine Kalkül für Selbstreferentialität von einem selbstreferentiellen Kalkül unterscheidet. Vgl. R. Kaehr: Kalkül für Selbstreferentialität oder selbstreferentielle Kalküle? in: B. Hellingrath et al. (Hgg): Radikaler Konstruktivismus. Forschungsbericht 288, FB Informatik.Uni. Dortmund: Dortmund 1990, S. 15-35.

[44]R. Kaehr: Über Todesstruktur; Maschine und Kenogrammatik. Interview mit S. Khaled. Spuren 38. 10/91, S. 47-53, hier S. 50

[45]ebd.


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